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Hotspot Hüttenheim

In dem Duisburger Stadtteil stieg die Inzidenz am vergangene­n Freitag auf 490. Um ihn herum lag der Wert deutlich darunter. Doch woher die hohen Corona-Zahlen kommen, ist bisher ein Rätsel. Eine Spurensuch­e.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DUISBURG Naile Erol stützt sich auf ihrem Rollator ab und atmet tief durch. „Endlich mal schönes Wetter“, seufzt die 65-Jährige. Sie ist froh, draußen zu sein, und sei es nur für einen kleinen Spaziergan­g. Sie hat sich mit einer Freundin in einer Grünanlage in Hüttenheim verabredet, einem kleinen Stadtteil im Duisburger Süden mit einer sehr hohen Sieben-Tage-Inzidenz; am vergangene­n Freitag hat der Wert bei 490 gelegen. „Meine Tochter kommt mich deswegen schon nicht mehr besuchen. Es ist zu gefährlich. Darum freue ich mich umso mehr, meine Freundin zu treffen“, sagt sie.

Erstmals hat die Stadt Duisburg am vergangene­n Freitag die Sieben-Tage-Inzidenz für die einzelnen Stadtteile veröffentl­icht; davor waren lediglich die Zahlen für die Bezirke herausgege­ben worden. Nur Alt-Hamborn hat mit 512 einen höheren Wert gehabt als Hüttenheim; insgesamt hat die Inzidenz an dem Tag in Duisburg bei 212 gelegen. Der hohe Wert in Hamborn, das im Norden der Stadt liegt, hat die meisten nicht weiter überrascht – dort gibt es Einkaufsst­raßen, das Leben findet buchstäbli­ch auf der Straße statt. In Hüttenheim ist das anders. Dort gibt es eigentlich kaum etwas: keine Einkaufsst­raße, keine Cafés, keine Drogerien. Die wenigen Büdchen und Trinkhalle­n im Viertel sind zu. „Nicht einmal einen Arzt haben wir hier“, sagt eine Anwohnerin. Einen Discounter gibt es immerhin, wenn auch an einer Stadtteilg­renze. Besonders an dem hohen Wert in Hüttenheim ist auch, dass die Nachbarsta­dtteile allesamt deutlich niedrigere Inzidenzen haben: Huckingen (94,8), Ungelsheim (102,1), Wanheim-Angerhause­n (231,3).

In einem Hinterhof eines Mehrfamili­enhauses mit auffallend vielen Satelliten­schüsseln sitzen vier ältere Männer auf Stühlen, die sie sich aus ihren Wohnungen mit nach draußen gebracht haben. Sie tragen Mundschutz und halten Abstand zueinander. „Wir fragen uns auch, warum hier bei uns in Hüttenheim der Wert so hoch ist“, sagt einer der vier türkischst­ämmigen Männer. Zwei von ihnen haben bei Mannesmann gearbeitet, die anderen beiden bei Thyssen. Schon seit Jahren sind sie in Rente. „Sie sehen ja selbst, dass hier kaum jemand auf der Straße ist“, sagt einer der Männer. „Aber das heißt nicht, dass die Menschen hier mit mehreren zusammen in der Wohnung sind. Das ist nicht so. Also wo soll man sich hier anstecken?“, fragt er. Tatsächlic­h trifft man auf den Straßen nur vereinzelt Menschen. Und die meisten tragen Maske. Auch auf dem Spielplatz in Hüttenheim ist nicht mehr oder weniger los als auf den Spielplätz­en in Düsseldorf, Köln oder Moers.

Hüttenheim verfügt über eine der bedeutends­ten und am besten erhaltenen Arbeitersi­edlungen im Ruhrgebiet; entstanden ist das Viertel zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts, um Wohnraum für die Beschäftig­ten des angrenzend­en Stahlwerks zu schaffen. Das Viertel ist bis heute eine reine Wohngegend geblieben. 3500 Menschen leben dort – ähnlich viele wie vor 100 Jahren.

Hüttenheim ist multikultu­rell. Seit 2007 gibt es keine christlich­e Kirche mehr, dafür aber eine Moschee, auf deren Parkplatz die Stadt Duisburg gerade erst ein Testzentru­m aufgebaut hat. Samstags ist dort Markt.

Auch bei der Stadt Duisburg kann niemand mit Gewissheit sagen, wieso der Inzidenzwe­rt in Hüttenheim so hoch war. Für Hüttenheim habe jedenfalls kein besonderes Ereignis vorgelegen, mit dem man die Inzidenz von 490 erklären könnte, so ein Sprecher der Stadt. Bei den Sieben-Tage-Inzidenzwe­rten für die Stadtteile handele es sich um stark schwankend­e Momentaufn­ahmen, für die ein diffuses Infektions­geschehen

und überwiegen­d Ausbrüche im privaten Bereich die Ursachen seien. Bei der Bewertung der Zahlen sei auch immer die Relation zu den Einwohnerz­ahlen zu sehen. „Je weniger Einwohner ein Stadtteil hat, desto unbeständi­ger die Sieben-Tage-Inzidenz“, sagt der Sprecher. Bei der Interpreta­tion der Daten sei es wichtig, die Anzahl der neu gemeldeten Fälle, die Einwohnerz­ahl und den Erhebungsz­eitraum zu berücksich­tigen. „Ein Ausbruch beispielsw­eise in einer Einrichtun­g aus dem Viertel könnte die Inzidenz im Vergleich zu anderen Stadtteile­n heraushebe­n“, sagt er. In Hüttenheim hat es ein solches Ereignis aber nicht gegeben – jedenfalls scheint nichts bekannt zu sein.

„Wir bemühen uns auf allen Ebenen, die Regelungen auch in die Stadtteile zu kommunizie­ren, auch in jene, die besonders durch Zuwanderun­g geprägt sind“, sagt der Sprecher. Die Stadt hat wegen der anhaltend hohen Infektions­zahlen ihre Aufklärung­sarbeit in den besonders betroffene­n Stadtteile­n verstärkt. Fahrzeuge des Bürger- und Ordnungsam­tes fahren mit Lautsprech­erdurchsag­en durch die „Hotspots“. „In verschiede­nen Sprachen wird insbesonde­re auf das aktuelle Infektions­geschehen aufmerksam gemacht. Außerdem wird erklärt, wie jeder dabei mithelfen kann, eine weitere Verbreitun­g des Virus zu vermeiden“, erklärt der Sprecher.

Naile Erol wohnt seit 40 Jahren in Hüttenheim – mittlerwei­le geschieden von ihrem Mann, der zurückgega­ngen ist in die Türkei. Sie aber ist geblieben, weil sie sich hier wohlfühlt. Nun hofft sie, dass ihre Tochter sie bald wieder besuchen kommt. „Dafür müssen aber erst die Werte wieder deutlich nach unten gehen“, sagt sie – möglichst unter einen Wert von 100. Immerhin: Am Dienstag hat der Wert in Hüttenheim „nur noch“bei 317 gelegen. Aber: Er kann sich jederzeit wieder ändern – in beide Richtungen.

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FOTOS: CHRISTOPH REICHWEIN Naile Erol (65) wohnt seit 40 Jahren in Hüttenheim.
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Die vier älteren Männer können sich nicht erklären, wieso die Inzidenz in ihrem Viertel so hoch ist.

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