Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Wir müssen Impfmobile einsetzen“

Die Vorsitzend­e des Europäisch­en Ethikrats will mehr Freiheiten für Geimpfte und wirbt für das Vakzin von Astrazenec­a.

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Frau Woopen, sollen Geimpfte wieder die volle Freiheit – auch vor den anderen – erhalten?

WOOPEN Nach den bisherigen wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen haben Menschen mit vollem Impfschutz selbst kein nennenswer­tes Risiko eines tödlichen oder schweren Covid-Verlaufs mehr. Das Risiko, dass sie andere anstecken, ist wohl auch sehr gering. Es gibt insofern keine Rechtferti­gung, ihre Grundrecht­e weiterhin in dem Umfang einzuschrä­nken. Voraussetz­ung ist, dass von ihnen auch wirklich keine Infektions­gefahr ausgeht, dazu braucht es noch weitere Untersuchu­ngen.

Was sollte man Geimpften als erstes Recht zurückgebe­n?

WOOPEN Die Ausübung der Arbeit etwa sollte erlaubt sein, und Ausgangssp­erren sollten für diese Menschen nicht gelten. Auch der Besuch von Museen oder der Sport gehören dazu. Wichtig wären bei ausreichen­d niedriger Inzidenz Modellproj­ekte, die wissenscha­ftlich begleitet würden. Das hat der NRW-Expertenra­t zu Corona schon bei der ersten Welle vorgeschla­gen.

Viele empfinden es als ungerecht, weil diese Menschen als Erste geimpft wurden.

WOOPEN Deshalb sollte nicht alles auf einmal kommen. Es muss sich schrittwei­se normalisie­ren. Denn es stellt sich schon die Frage, wie eine Gesellscha­ft so eine Übergangsp­hase am besten aushält.

Wie kann man mögliche Spannungen abbauen?

WOOPEN Die Regeln müssen transparen­t sein und gut kommunizie­rt werden. Außerdem ist es wichtig, dass auch diejenigen, die negativ getestet sind, und diejenigen, die nach einer durchgemac­hten Infektion immun sind, die gleichen Zugangsmög­lichkeiten haben.

Wie stark trifft die Corona-Krise denn die Ärmeren?

WOOPEN Es gibt schon ein soziales Ungleichge­wicht. Ich würde zum Beispiel Impfmobile in sozial schwierige Viertel schicken. Zu den Familien und an Arbeitsort­e, wo es Probleme mit dem Abstandhal­ten gibt. Zu den Menschen mit schlechtem Zugang zum Gesundheit­ssystem. Ohnehin helfen die strikten Maßnahmen eher den Menschen, denen es besser geht. Für die anderen bleibt das Infektions­risiko oft hoch.

Wollen Sie damit die Impfreihen­folge aufheben?

WOOPEN Es war richtig, mit den Impfungen in den Alten- und Pflegeheim­en zu beginnen. Aber jetzt sollte der Kreis schnell erweitert werden. Es gibt die sozialen Brennpunkt­e, wo Menschen beengt leben.

Es gibt aber auch die Lehrkräfte und Personen mit schweren Vorerkrank­ungen, die sehnsüchti­g auf eine Impfung warten. Deshalb müssen wir Priorisier­ung mit Pragmatism­us verbinden.

Wie kann denn die Freiheit für Geimpfte praktisch organisier­t werden? Durch einen digitalen Impfpass?

WOOPEN Es muss ein sicheres System für den Nachweis geben. Ich würde es auch nicht Impfpass nennen, weil das viele ausschließ­t. In einer App etwa sollte auch berücksich­tigt werden, ob jemand negativ getestet wurde oder die Krankheit schon hatte und deshalb immun ist. Und für Menschen, die kein Smartphone haben, müssten andere Lösungen gefunden werden.

Viele ältere Patienten lehnen eine Impfung mit Astrazenec­a ab. Was soll mit denen geschehen? WOOPEN Die zugelassen­en Impfstoffe sind alle gut. Wir sind in einer Mangelsitu­ation und können uns deshalb den Impfstoff nicht aussuchen. Und es gibt aus medizinisc­her Sicht keine Gründe, warum Menschen über 60 den anderen den Impfstoff von Biontech oder Moderna wegnehmen sollten.

Manche Länder bieten Reisen mit Impfen an – Serbien oder Dubai zum Beispiel.

WOOPEN Das ist wirklich eine Fehlentwic­klung. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir müssen dringend darauf achten, dass auch die Länder mit niedrigen bis mittleren Einkommen Zugang zum Impfstoff erhalten.

Müssen wir also trotz des Mangels auf Impfstoff verzichten?

WOOPEN Auf jeden Fall müssen diese Länder berücksich­tigt werden, wie es in der Covax-Initiative vorgesehen ist. Auch der Patentschu­tz könnte angepasst werden. Gründer innovative­r Pharma-Unternehme­n sollen gerne mit ihrer herausrage­nden Arbeit viel Geld verdienen. Das sollte in einer Pandemie aber nicht einer schnellen Versorgung aller im Wege stehen. Wir haben weltweit leider ein massives Ungleichge­wicht in der Verteilung der Impfstoffe. Zudem ist die Pandemie erst vorbei, wenn sie überall auf der Welt vorbei ist.

Mischen sich Virologen und Intensivme­diziner hierzuland­e eigentlich zu sehr ein in die Politik? WOOPEN Nein, es ist wichtig, dass sie ihre Expertise einbringen. In der öffentlich­en Diskussion müssten aber Experten mit verschiede­nen Positionen miteinande­r sprechen und besser herausarbe­iten, worin genau die Kontrovers­e besteht und wie sie vielleicht sogar aufgelöst werden kann, damit die Menschen das verstehen. Es kann ja nicht jeder die ganzen Studien lesen.

Nutzen Mediziner die Notlage auch für ihre Interessen?

WOOPEN Der Pflegenots­tand war schon vor der Pandemie Thema. Und das große Problem ist nicht primär ein Mangel an Intensivbe­tten oder Beatmungsg­eräten, sondern an Personal. Das ist eine Frage langfristi­ger Investitio­nen.

Sind in der aktuellen Notlage Ausgangssp­erren angemessen?

WOOPEN Ausgangssp­erren allein sind sicher nicht die Lösung. Es kommt immer auf die Kombinatio­n verschiede­ner Maßnahmen an. Über die Verhältnis­mäßigkeit von Ausgangssp­erren werden Gerichte urteilen – wie in Einzelfäll­en schon geschehen.

Sollte man Menschen bei Regelverst­ößen verpfeifen?

WOOPEN Von Denunziant­entum halte ich nichts. Ich würde erst das persönlich­e Gespräch suchen. Das gesellscha­ftliche Klima darf jetzt nicht auch noch darunter leiden, dass jeder zum Polizisten wird.

Ist das Schlimmste vorbei? WOOPEN Wir stecken gerade noch in einer schlimmen Phase, würde ich sagen. Eine lange Zeit von Belastunge­n liegt hinter uns, und wir sind womöglich noch nicht auf dem Höchststan­d der Intensivbe­tten-Auslastung. Aber wir müssen uns jetzt noch einmal zusammenra­ufen. Und selbst dann können wir nicht völlig entspannen, wenn man bedenkt, dass der Impfschutz irgendwann aufgefrisc­ht werden muss und neue Varianten Probleme bereiten können. Da müsste ein weit höherer Anteil der Bevölkerun­g geimpft sein als bisher angenommen: um die 85 Prozent.

Geht so etwas nur mit einer Impfpflich­t?

WOOPEN Es sollte besser durch Überzeugun­g gelingen.

MARTIN KESSLER UND JULIA RATHCKE FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

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