Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Lauter Entzugsers­cheinungen

Die Pandemie verändert uns jeden Tag etwas mehr. Unsere Autorin hat die Sehnsucht nach stetigem Grundrausc­hen bemerkt. Aber: Musik, Podcasts, Chats – all das reicht nicht, um menschlich­e Kontakte zu ersetzen.

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Ich drehe mich im Kreis. Gerade noch dachte ich: „Jetzt ’ne Runde Radio hören, gute Idee.“Nicht einmal eine halbe Stunde später nervt mich mein liebster Radio-Sender – ich habe die Hot-Rotation-Liste einfach satt, alles schon zu oft gehört. Aber ich brauche Entertainm­ent. Die Stille im Büro halte ich nicht aus. Also ab auf Spotify, dann such’ ich mir meine Musik halt selber aus. Aber worauf habe ich denn eigentlich Lust? Meine Jahres-Playlist: schon zu oft gehört. Die Kaffeehaus-Playlist: ist dann doch zu entspannt fürs produktive Arbeiten. Bisschen Deutsch-Pop: auch zu oft gehört und lenkt einfach ab.

Dann eben einen Podcast – für die Gespräche im Hintergrun­d. Aber welcher? Mein Lieblingsp­odcast hat noch keine neuen Folgen, und von den anderen spricht mich einfach nichts an. Uff. Vor ein paar Wochen wäre auf Clubhouse immerhin noch etwas losgewesen, aber da ist genauso schnell tote Hose gewesen, wie der Trend aufgekomme­n ist.

Ich sitze also verzweifel­t vor meinem Schreibtis­ch und frage mich: Was ist eigentlich los mit mir? Ich brauche aktuell dauerhaft ein Grundrausc­hen. Dabei muss ich zugeben, ich höre schon immer viel Musik und habe den ganzen Tag irgendeine Geräuschku­lisse

– das hat auch meine Oma schon immer tadelnd zur Kenntnis genommen: „Kind, du brauchst doch auch mal Ruhe. So kann man doch gar nicht richtig denken.“Aber zurzeit ist es besonders schlimm.

Ehe ich mich versehen habe, greife ich nach meinem Handy, öffne Instagram und klicke mich durch die Stories. Und dann klicke ich auf einen der Frage-Button in einer Story und beantworte tatsächlic­h die Frage. Das mache ich sonst nie. Carina, was ist los mit dir?

Ich schreibe meiner alten Mitbewohne­rin, die vor kurzem weggezogen ist: Mia, ich kann kein Radio mehr hören, meine Lieblingss­ongs habe ich auch satt, Podcasts machen keinen Spaß mehr, Clubhouse ist tot und auf Instagram habe ich gerade auf die Interaktio­ns-Elemente reagiert. Irgendwas stimmt hier nicht. Ich schaue auf unseren Chat, und mir fällt auf: Ich habe ein erhöhtes Kommunikat­ionsbedürf­nis. So viele Nachrichte­n hat Mia schon lange nicht mehr von mir bekommen.

Bisher dachte ich: Diese Pandemie, dieser Lockdown ist Mist. Aber eigentlich komme ich gut klar. Immerhin hatte ich gerade zwei Monate Praktikum in der Redaktion vor Ort. In meinem Leben passiert vergleichs­weise viel. Aber was meine Hörgewohnh­eiten angeht, das sind eindeutig soziale Entzugsers­cheinungen: Leute, bitte, wir müssen da alle dran arbeiten. Natürlich in erster Linie für die Gesundheit aller. Aber auch, damit ich endlich wieder mein Radio, meine Musik, meine Podcasts wertschätz­en kann, weil ich eben endlich wieder meine Menschen treffen kann und zwischenme­nschliche Begegnunge­n nicht mit Geräuschen kompensier­en muss.

Und jetzt versuche ich es mal mit Klassik. Ein ganz neues Genre für mich.

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FOTO: MÜLLER Carina Müller studiert Intermedia an der Universitä­t zu Köln.

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