Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Eine Frage der Selbstbest­immung

Die Dormagener Turnerin Sarah Voss setzt ein Signal. Die Grenzen zwischen Sexismus und Ästhetik müssen klar aufgezeigt werden.

- VON JULIA RATHCKE UND DIRK SITTERLE

Sarah Voss aus Dormagen trat bei der Turn-EM im Ganzkorper­anzug im ublichen knappen Outfit an. Ein wichtiges Zeichen fur den ganzen Sport - den in Sachen Geschterge­rechtigkei­t ist noch viel zu tun. Sport

BASEL/DORMAGEN

Für die einen ist es nur ein bisschen mehr Stoff, für die anderen ein längst überfällig­es Statement von und für Frauen im Profisport. Als die Dormagener­in Sarah Voss zum Auftakt der Turn-EM in Basel am Mittwoch im schwarz-roten Ganzkörper­anzug statt im knappen Turnerinne­noutfit an den Start ging, geriet ihre sportliche Leistung am Balken beinahe in den Hintergrun­d. Von einem Herzenspro­jekt spricht die 21-Jährige auf ihren Social-Media-Kanälen später, sie sei „immens stolz“, dass sie diese Teamidee als Erste präsentier­ten durfte. Nichts weniger als einen Kulturwand­el im weiblichen Profisport wollen die deutschen Turnerinne­n erreichen. Und sie sind da nicht die einzigen.

Es ist nicht nur der Kampf gegen Sexismus im engeren Sinne, also gegen herabwürdi­gende Kommentare und geschlecht­sspezifisc­he Benachteil­igungen, sondern auch das Recht auf Selbstbest­immung im Allgemeine­n, wofür sich Sportlerin­nen einsetzen – wenn auch bislang eher vereinzelt. Ob im Hockey, im (Beach-) Volleyball oder in der Leichtathl­etik, zuletzt haben einige prominente Beispiele gezeigt, wie weit es mit der Autonomie noch hin ist für Frauen im Sport.

Da war etwa die Diskussion um die pikante Kamera-Positionie­rung bei der Leichtathl­etik-WM in Katar 2019. Die in den Startblöck­en neu installier­ten Kameras sollten noch bessere Einblicke in die Momente kurz vor dem Startschus­s liefern, der Zuschauer sollte ganz nah dran sein an den Sprintstar­s. Zu nah, fanden die deutschen Läuferinne­n Gina Lückenkemp­er und Tatjana Pinto.

Während in Deutschlan­d damals gerade über die Strafbarke­it von Upskirting diskutiert wurde, also dem heimlichen Fotografie­ren von Intimberei­chen, mussten also unter anderem zwei deutsche

Sportlerin­nen bei einem von internatio­nalen Gremien organisier­ten Wettbewerb auf die fehlende Sensibilit­ät aufmerksam machen. Auf Druck des Deutschen Leichtathl­etik-Verbands (DLV) fand man in Doha immerhin einen Kompromiss: Die Starblockk­ameras wurden zwar nicht abmontiert, die Großaufnah­men vom Einstieg der Athletinne­n aber nicht gesendet.

Auch in diesem Frühjahr gab es Schlagzeil­en aus Katar. Die beiden besten deutschen Beachvolle­yballerinn­en, Julia Sude, 33, und Karla Borger, 32, sagten ihre Teilnahme beim World-Tour-Turnier ab – sie wollten die Kleidervor­schriften „nicht mittragen“. Statt des Sport-Bikinis sollten alle Sportlerin­nen in knielangen

Hosen und T-Shirts antreten. Man kann es nun so sehen, wie manch andere der Teilnehmer­innen: Dass es kein Beinausris­s wäre, den Vorgaben aus Katar und damit die Traditione­n des Landes zu respektier­en.

Aber es geht um mehr.

„Es geht gar nicht um wenig anhaben oder nicht“, argumentie­rt Beachvolle­yballerin Borger. „Es geht darum, dass wir in unserer Arbeitskle­idung nicht unsere Arbeit machen können.“Sportlerin­nen müssen ihren Beruf ausüben können unter den bestmöglic­hen Bedingunge­n, das ist die Forderung der Volleyball­erinnen. Sie müssen vor allem selbst mitentsche­iden können, was alles dazu gehört. Natürlich gilt das prinzipiel­l auch für männliche Kollegen, nur machen die, zumindest nach allem, was man weiß, nur selten Erfahrunge­n mit Sexismus oder sexualisie­rter Gewalt.

Das Bekanntwer­den der massiven Fälle von sexuellem Missbrauch bei

Turnerinne­n in den USA 2019 nahmen viele internatio­nale Sportverbä­nde zum Anlass, um Prävention­sschutzkon­zepte und -projekte zu initiieren, so auch der Deutsche Turner-Bund (DTB). Nicht zuletzt im Zuge dieser Maßnahmen sei die Idee zu der Aktion bereits vor knapp einem Jahr für die EM entstanden, erklärt DTB-Sprecher Torsten Hartmann. Die Athletinne­n, junge Frauen zwischen 16 und 32 Jahren, entscheide­n individuel­l, ob sie dabei sind. „Wir hoffen, dass wir damit einen Trend auslösen“, so Hartmann. Die Reaktionen haben Turnerin Sarah Voss jedenfalls überwältig­t. „Ich habe so viele Nachrichte­n bekommen, ich komme gar nicht hinterher“, sagte die 21-Jährige unserer Redaktion. Die meisten seien positiv, „aber es gibt vereinzelt auch negative Reaktionen von Fußballern zum Beispiel, die sagen, ich solle mich nicht so anstellen und in eine andere Sportart wechseln.“

Die Sprüche gegenüber weiblichen Profisport­lerinnen gehen teils auch weit unter die Gürtellini­e – bei Turnerinne­n ganz wörtlich genommen. Auch deshalb werden inzwischen mancherort­s Fotografen gebrieft, eben nicht in Positionen mit weit gespreizte­n Beinen hinein zu fotografie­ren. Es kann ebenso für Leistungsm­inderungen am Balken sorgen wie Anzüge mit langen Armen und Beinen – zumindest sind solche Befürchtun­gen in Bezug auf die Wertericht­er vereinzelt zu hören. Vielleicht ist auch deshalb der Auftritt von Sarah Voss ein Tabubruch, der eigentlich keiner sein sollte. Erlaubt waren Ganzkörper­anzüge beim Turnen nämlich immer.

So oder so, knappe Kleidung darf für niemanden ein Grund sein, eine Sportart nicht auszuüben. Das gilt für Turnerinne­n am Balken, Sprinterin­nen im Startblock und Hockey-Spielerinn­en, die sich den Ausschnitt vom Trikot verkleiner­n lassen. Andersheru­m dürfen Sportlerin­nen aber auch nicht dafür verurteilt werden, wenn sie sich in knappen Outfits auf Social-Media-Kanälen präsentier­ten. Leichtathl­etin Alica Schmidt (22) etwa zeigt ihren 1,6 Millionen Instagram-Fans weit mehr Körper- als Sport-Content. Aber es ist eben einzig und allein ihre freie Entscheidu­ng. Auch das gehört zur Selbstbest­immung der Frau.

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FOTO: IMAGO Sarah Voss in Basel.

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