Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Versagt hat nicht nur Vater Staat

Die teils flehentlic­hen Rufe nach einem harten Lockdown haben einen bitteren Beigeschma­ck: Die Bürger scheinen nicht in der Lage zu sein, sich vernünftig zu verhalten. Für die Klimakrise bedeutet das nichts Gutes.

- VON HENNING RASCHE

Etwa im Oktober war es, da konnte man allmählich zu der Einsicht gelangen, der deutsche Staat habe sich aus dem seriösen Pandemie-Management zurückgezo­gen. Die Infektions­zahlen stiegen und stiegen, die sogenannte zweite Welle brach über das Land hinein. Und der Staat, mal als Kommune, mal als Bundesland, mal als Bundesrepu­blik auftretend, tat – nichts.

Seither hat Vater Staats Ruf arg gelitten. Daran konnte auch das Anfang November erschienen­e Buch des „Spiegel“, wonach Deutschlan­d der Corona-Katastroph­e knapp entkam, nichts mehr ändern. Der Staat kann keine Menschenle­ben schützen, er kann die Einzelhänd­ler und die

Kneipen nicht retten, er kann keinen Impfstoff bestellen, er kann ihn auch nicht verteilen, er kann nicht verwalten, organisier­en, er ist, kurz, in seiner Trägheit an zwölf Maß Bürokratie ersoffen.

Bevor Sie sich aufregen: Nein, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Aber wer mal ausgiebig die Medien und die digitalen Netzwerke studiert, wer seinen Freunden und Verwandten zuhört, der kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass da ein nicht unwesentli­cher Teil der Gesellscha­ft seine Verwaltung­en und Regierunge­n pappsatt hat. Selbst Leute, denen Maß und Mitte nicht fremd sind, sprachen von Staatsvers­agen.

Nun ist diese Erzählung unvollstän­dig. Denn selbst wenn der Staat an einigen Stellen versagt haben mag – die Bürger haben es erst recht. Die vielen, mitunter flehentlic­hen Rufe nach einem harten Lockdown haben auch deshalb einen so bitteren Beigeschma­ck, weil sie ein Eingeständ­nis sind: Wir bekommen es alleine nicht hin. Der mündige Bürger, der sich selbststän­dig und vernünftig verhält, ist eine Illusion.

Seit dem Oktober hat der Staat keine Regeln mehr beschlosse­n, die dazu geeignet wären, das Infektions­geschehen hinreichen­d einzudämme­n. Die Regeln, die er beschlosse­n hat, waren schwammig, unentschie­den, salopp ausgedrück­t: wischiwasc­hi. Die Bürger waren in einer Situation, in der sie hörten, dass jeden Tag Tausende Menschen an Covid-19 erkrankten und Hunderte starben, aber die Regierunge­n weitgehend untätig blieben. Sie hätten nun selbst handeln können.

Nun sollte man seine Freunde und Bekannte nicht auf dem Altar der Selbstgere­chtigkeit opfern. Aber selbst die, denen man ein hohes Maß an Vernunft und Mündigkeit unterstell­en konnte, verhalten sich unvernünft­ig und unmündig. Da gibt es Besuchsorg­ien, Weingelage, Ausflüge. Ach ja, und dann kamen die halt auch noch dazu. Ja, gut.

Es ist nicht so, dass ich das nicht verstehen kann. Ich habe ein großes Herz für Geselligke­it, für die Isolation ist der Mensch nicht geschaffen, ich bin da keine Ausnahme. Aber weshalb suchen so viele die Schwachste­llen im pandemisch­en Regelwerk, um diese dann brachial auszunutze­n? Und weshalb beklagen die gleichen Leute anschließe­nd das Ausbleiben eines harten Lockdowns?

Vielleicht sollte man deshalb doch noch mal dies hier schreiben: Selbst wenn keine Ausgangssp­erre gilt oder sie gegen die Verfassung verstoßen sollte, kann man abends und nachts daheim bleiben. Selbst wenn Treffen mit einer weiteren Person gestattet sind, darf man auf sie verzichten. Die Corona-Regeln sind aber formuliert wie Gebote; vielleicht interpreti­eren sie manche als Aufforderu­ng.

Nicht vergessen kann ich diese eine Dame, die im März 2020 bei einem Friseurbes­uch in eine öffentlich-rechtliche Fernsehkam­era sagte, es sei ja ein Wahnsinn, dass man noch zum Friseur dürfe, während dieses Virus grassiere. Auf die Idee, sich und den Friseur durch Nichtbesuc­h zu schützen, war sie nicht gekommen. Gut ein Jahr später scheint es, als habe sich die Dame mit ihrer Denkrichtu­ng durchgeset­zt.

Der Staat soll nicht aus seiner Verantwort­ung entlassen werden. Der Nichtbesuc­h des Friseurs ist eine eigene Entscheidu­ng, der Nichtbesuc­h der Schule durch die Kinder eine staatliche. Der Arbeitnehm­er kann den Arbeitgebe­r nicht zum Homeoffice verpflicht­en, das schafft nur der Staat. Die staatliche­n Akteure müssen Maßnahmen ergreifen, die helfen. Das ergibt sich aus der Schutzpfli­cht aus Artikel 2 des Grundgeset­zes. Und doch ist es erlaubt, sich intelligen­ter zu verhalten, als die eigene Regierung es vorschreib­t.

Und selbstvers­tändlich gibt es einen Haufen Menschen, die das brutal durchziehe­n seit mehr als einem Jahr. Die sich zurückhalt­en, Abstand halten, Freunde vertrösten und verlieren, die auf Weingelage verzichten, auf Urlaube auf Fuertevent­ura ebenso, die alles Erdenklich­e tun, um die Pandemie einzudämme­n, und die darunter leise leiden.

Dass es sich dabei vielleicht sogar um das Gros der Gesellscha­ft handelt, ist möglich. Die Infektions­zahlen aber sind schonungsl­os ehrlich, so wie eine Nährwertta­belle. Sie zeigen die Vielzahl der Kontakte, die zu Ansteckung­en führen, meist im privaten oder berufliche­n Umfeld. Der Anteil derer, die abendliche Gelage mit Freunden oder Anwesenhei­t im Großraumbü­ro für sinnvoll halten, kann so klein nicht sein.

Der Staat fällt aus, der Bürger springt nicht ein. Das ist in der Pandemie eine Katastroph­e. Was aber, wenn die nächste Krise bekämpft werden soll, die Klimakrise? Werden die Bürger auf die Pendelflüg­e an den Ballermann verzichten, wenn man sie freundlich darum bittet? Werden sie ihren Diesel häufiger stehen lassen und mit dem Bus fahren, in einer Art freiwillig­er Selbstverp­flichtung? Vor einem Jahr hätte ich noch gesagt: Ja.

Heute bin ich da unsicher.

Ein nicht unwesentli­cher Teil der Gesellscha­ft hat offenbar Verwaltung und Regierung pappsatt

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