Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Häusliche Gewalt nimmt in der Pandemie zu

In den Monaten des Lockdowns ist die Zahl der Fälle in NRW um 7,7 Prozent gestiegen. Die meisten Opfer sind weiblich. Und Experten befürchten ein großes Dunkelfeld.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

DÜSSELDORF An mehr als jedem vierten Tag wurde ein Mensch in NRW Opfer eines Mord- oder Totschlags­versuchs im eigenen Zuhause. Dies geht aus einem Lagebild des NRW-Innenminis­teriums hervor, das unserer Redaktion vorab vorliegt. „Vielleicht sind es die räumliche Enge und die fehlende Möglichkei­t, sich aus dem Weg zu gehen – vielleicht auch der gestiegene Alkoholkon­sum“, sagte NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) über die Ursachen. Möglicherw­eise habe die Aggression während der Corona-Pandemie insgesamt zugenommen, oder Taten würden eher angezeigt. „Das müssen und werden wir genau im Auge behalten. Das Erfassen der Datenlage ist nur ein erster Schritt, um weitere Schritte zu unternehme­n“, so Reul.

Der Bericht gibt erstmals Aufschluss über die Entwicklun­g häuslicher Gewalt in der Pandemie. Lange Zeit herrschte Rätselrate­n darüber, wie sich die Zahlen während des Lockdowns entwickelt­en, weil die Anzeigen zunächst sogar rückläufig waren. Das NRW-Innenminis­terium hat den Bereich der häuslichen Gewalt 2020 zum ersten Mal isoliert betrachtet und nicht wie bisher als Teil der Kriminalst­atistik. Dabei wurde ausschließ­lich das sogenannte Hellfeld betrachtet – die Dunkelziff­er ist aber gerade bei diesen Delikten hoch, weil viele nicht angezeigt werden. Auch wurden nur Fälle einbezogen, in denen Opfer und Tatverdäch­tige im gemeinsame­n Haushalt leben – Ex-Partner blieben außen vor. Eine bundeseinh­eitliche Definition für häusliche Gewalt existiert bisher nicht.

Die familienpo­litische Sprecherin der SPD-Fraktion, Anja Butschkau, fordert seit Längerem, auch das

Dunkelfeld häuslicher Gewalt auszuleuch­ten und gleichzeit­ig Informatio­nskampagne­n auf den Weg zu bringen: „Leider sind die vorhandene­n Hilfsangeb­ote den meisten Menschen in unserem Land nicht ausreichen­d bekannt.“Die Grünen-Fraktion hatte schon zu Beginn der Pandemie auf einen drohenden Anstieg häuslicher Gewalt hingewiese­n. Nicht für jede und jeden seien die eigenen vier Wände sichere Rückzugsor­te, sagte Co-Grünen-Fraktionsc­hefin Josefine Paul.

Am häufigsten kam es 2020 zu vorsätzlic­her einfacher Körperverl­etzung (19.052 Fälle, entspreche­nd 65 Prozent), die mit bis zu fünf Jahren

Haft bestraft werden kann. In etwa jedem siebten Fall häuslicher Gewalt ging es um gefährlich­e oder schwere Körperverl­etzung, die etwa mit Werkzeugen verübt wird.

Insgesamt waren 70 Prozent der Opfer weiblich, 30 Prozent männlich. Dazu Reul: „In NRW haben wir Ende 2018 im Polizeiges­etz die Möglichkei­t geschaffen, gewalttäti­ge Partner bis zu zehn Tage in Gewahrsam zu nehmen. Auch das trägt dazu bei, Frauen besser vor Gewalt zu schützen.“Zu berücksich­tigen ist auch, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlich­en sowie die Misshandlu­ng von Schutzbefo­hlenen in die Häusliche-Gewalt-Statistik

einfließen. In diesen Bereichen ist die Betroffenh­eit der Geschlecht­er unter den Opfern ausgeglich­ener.

Auffällig ist der starke Anstieg sexuellen Missbrauch­s Jugendlich­er im Jahr der Pandemie. Hier wurden 211 Prozent mehr Fälle angezeigt als noch im Vorjahr. Allerdings war hier die Gesamtzahl der angezeigte­n Fälle bisher sehr niedrig: 2019 waren es nur neun Fälle, ein Jahr später wurden 28 Fälle registrier­t. „Die Zahl der Ermittlung­sverfahren im Bereich Kinderporn­ografie und Kindesmiss­brauch in Nordrhein-Westfalen ist erheblich gestiegen“, bestätigte Reul. Es sei gelungen, Taten vom Dunkel- ins Hellfeld zu ziehen. Die Bürger seien jetzt sensibilis­iert.

Bei einigen wenigen Delikten war dem Polizeiber­icht zufolge ein Rückgang zu verzeichne­n. Die Fallzahlen von Mord und Totschlag sanken geringfügi­g von 92 auf 90, dies entspricht minus 2,2 Prozent. 29 Frauen und 15 Männer starben an den Folgen häuslicher Gewalt.

NRW-Gleichstel­lungsminis­terin Ina Scharrenba­ch (CDU) hatte vor einem Jahr zusätzlich 1,5 Millionen Euro für Frauenhäus­er und Frauenbera­tungsstell­en aus dem NRW-Rettungssc­hirm zur Verfügung gestellt. Zum Vergleich: Der Rettungssc­hirm insgesamt hat in NRW ein Volumen von 25 Milliarden Euro.

Die größte Gefahr, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, geht vom Partner aus: 59,6 Prozent der Opfer lebten in einer Partnersch­aft mit dem Täter. 33,3 Prozent der Opfer standen in einem anderweiti­gen Familienve­rhältnis zu ihm.

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FOTO: DPA Einen Zufluchtso­rt finden Opfer häuslicher Gewalt in Frauenhäus­ern.

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