Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Der Arbeitsmar­kt ist erstaunlic­h robust“

Der Vorstandsv­orsitzende der Bundesagen­tur für Arbeit über Arbeitslos­igkeit durch die Corona-Pandemie, Perspektiv­en für Berufseins­teiger und warum er für Hartz-IV-Sanktionen ist.

-

Herr Scheele, Sie haben schon früh das Hü und Hott bei den Corona-Maßnahmen kritisiert. Wie wirkt die Corona-Politik aktuell auf den Arbeitsmar­kt?

SCHEELE Für den Arbeitsmar­kt und die Unternehme­n ist es nicht gut verträglic­h, wenn es dauernd ein Rein und Raus aus den Maßnahmen gibt. Das schafft keine Planungssi­cherheit, das verunsiche­rt. Ich begrüße deshalb, dass die Novelle des Infektions­schutzgese­tzes nun bundesweit einheitlic­he Regelungen ab bestimmten Inzidenzwe­rten vorsieht.

Wie sieht Ihre Prognose für den Arbeitsmar­kt 2021 und danach aus? SCHEELE Die Arbeitslos­igkeit wird saisonbedi­ngt in den kommenden Monaten sinken. Das war auch im vergangene­n Jahr so. Durch die Krise sind aber bereits 500.000 Arbeitslos­e hinzugekom­men. Die werden nach und nach wieder zurück in den Arbeitsmar­kt finden, wenn das Impfen funktionie­rt und beispielsw­eise Einzelhand­el und Gastronomi­e wieder öffnen. Ich bin da optimistis­ch.

Droht jetzt nicht die Gefahr, dass viele Menschen in der Arbeitslos­igkeit bleiben und damit, wenn sie dann in die Grundsiche­rung rutschen, langzeitar­beitslos werden? SCHEELE Wir rechnen im Jahresschn­itt mit einem weiteren Anstieg der Langzeitar­beitslosig­keit, das werden wir nicht verhindern können. Mit Weiterbild­ungen und leichten Erholungen am Arbeitsmar­kt im Sommer lässt sich das nicht auffangen.

Die Zahl der Langzeitar­beitslosen ist in der Krise spürbar gestiegen… SCHEELE Ja, leider. Ich wäre froh, wenn sich diese Dynamik abschwäche­n würde. 2019 gab es etwas mehr als 720.000 Personen in dieser Gruppe. Wir gehen von etwas mehr als einer Million Langzeitar­beitslosen im Jahresschn­itt aus.

Viele Menschen befürchten, dass die Arbeitslos­igkeit nach dem Auslaufen der Kurzarbeit stark ansteigen wird. Zu Recht?

SCHEELE Nein, das teile ich ausdrückli­ch nicht. Dafür gibt es keine Indizien. Es war im vergangene­n Jahr nicht so, dass die Arbeitslos­igkeit stieg, als die Kurzarbeit zurückging. Die Betriebe halten an ihren Angestellt­en und Mitarbeite­rn fest. Der deutsche Arbeitsmar­kt ist auch in dieser Krise erstaunlic­h robust.

Muss die Bundesregi­erung vor Ende der Legislatur­periode noch mehr tun, um den Anstieg der Langzeitar­beitslosig­keit zu stoppen?

SCHEELE Wir haben bereits Maßnahmen für besonders betroffene Langzeitar­beitslose in den letzten Jahren intensivie­rt, insbesonde­re das Teilhabech­ancengeset­z ist ja erfolgreic­her, als wir zu hoffen gewagt haben. Wirklich geholfen hätte aber eine Reform der Grundsiche­rung, mit der Langzeitar­beitslose die Möglichkei­t einer dreijährig­en Umschulung mit einem monatliche­n Bonus bekommen hätten. Leider gibt es in der Regierungs­koalition keine Einigkeit über den Gesetzentw­urf von Arbeitsmin­ister Heil. Ich rechne nicht mit einer Verabschie­dung vor der Wahl.

Viele Schulabgän­ger und Berufsanfä­nger sorgen sich um ihre Zukunft. Können Sie Entwarnung geben? SCHEELE Gerade junge Menschen leiden unter dieser Krise. Viele von ihnen haben ihre Mitschüler, Kommiliton­en und Kollegen noch nie kennengele­rnt. Alles, was Jungsein ausmacht, ist derzeit kaum möglich. Bei 330.000 Bewerbern und 420.000 Ausbildung­splätzen gibt es aber keinen Grund für Alarmsigna­le. Allerdings ist die Bewerberza­hl auf Lehrstelle­n aus diesem Abschlussj­ahrgang rund 20 Prozent geringer als erwartet. Wir wissen noch nicht, wo sie geblieben sind.

Woran liegt das?

SCHEELE Weil es derzeit kaum persönlich­en Kontakt zu diesen Schulabgän­gern gibt. Ausbildung­smessen finden nur virtuell statt, Praktika in Betrieben sind auch nur selten. All das trägt dazu bei, dass uns ein erhebliche­r Teil künftiger Fachkräfte durchrutsc­ht. Das macht mir Sorge. Wir versuchen, mit Videoberat­ungen und anderen Online-Werkzeugen gegenzuste­uern. Wir hoffen auf den Sommer, in dem hoffentlic­h wieder mehr Kontakte möglich sein werden, und vermitteln, anders als sonst, bis ins nächste Jahr hinein. Ich glaube aber nicht, dass so etwas wie ein Corona-Jahrgang droht. Der Fachkräfte­mangel wird nach der Krise weiterhin zunehmen, dann steigen die Chancen wieder, da bin ich sicher.

Es gibt eine Debatte darüber, ob der Hartz-IV-Satz deutlich erhöht werden soll. Sollte die Methode zur Errechnung geändert werden? SCHEELE Ich kann nur davor warnen, dass man damit zu einer schnellen Erhöhung kommt. Die Methode zu verändern, wird komplizier­t und langwierig sein. Es mag gerechtere Lösungen geben, aber das wird nicht zwingend zu einem höheren Satz führen.

Worauf kommt es bei der Hartz-IVHöhe an?

SCHEELE Dass die Menschen damit ein menschenwü­rdiges Auskommen haben und ihren Wohnraum finanziere­n können. Ohne das gelingt keine Wiedereing­liederung in den Arbeitsmar­kt. Wichtig ist aber, dass Arbeit sich weiter lohnen muss. Die Grundsiche­rung darf nicht zur Dauerlösun­g werden. Die Leute müssen – so es irgendwie geht – da raus und eine Arbeit finden. Dabei müssen wir sie so gut unterstütz­en, wie es geht. Nur dann wird ihr Leben besser.

SPD, Grüne und Linke fordern weiterhin, die Hartz-IV-Sanktionen ganz abzuschaff­en. Findet das Ihre Unterstütz­ung?

SCHEELE Ich war immer Gegner von Kürzungen des Regelsatze­s zu 100 oder 60 Prozent oder auch gegen Mietkürzun­gen bei Regelverst­ößen.

Diese harten Sanktionen sind ja dann auch vom Verfassung­sgericht gekippt worden. Jetzt darf der Satz nur noch um 30 Prozent gekürzt werden, und es gibt eine Härtefalll­ösung. Damit bin ich sehr zufrieden. In der Pandemie haben wir zeitweise Sanktionen ausgesetzt. Wenn die Pandemie vorüber ist, werden die Sanktionen vermutlich eine geringere Rolle spielen als vorher. Betroffen waren vor der Corona-Krise von allen Grundsiche­rungsempfä­ngern im Schnitt nur rund drei Prozent im Monat, und das überwiegen­d wegen Meldeversä­umnissen.

Dennoch wollen linke Parteien die 30-Prozent-Regel abschaffen… SCHEELE Ich kenne keine staatliche Sozialleis­tung, die man ohne Regeln in Anspruch nehmen kann.

Sind die Regeln zum Kurzarbeit­ergeld auch angemessen, oder sollte es nochmals verlängert werden, wenn sich die Krise weiter in die Länge zieht?

SCHEELE Das Kurzarbeit­ergeld ist ja kein Geschäftsm­odell auf Dauer. Irgendwann muss es zu Ende sein. Wenn Unternehme­n danach weiterhin keinen Zugang zum Markt haben, dann wird man sich etwas anderes überlegen müssen. Die Kurzarbeit hat sich als Instrument in der Krise sehr bewährt.

Die volkswirts­chaftliche­n Kosten sind allerdings enorm. Wie viel Geld wird die Kurzarbeit in den Krisen-Jahren

2020 und 2021 am Ende gekostet haben?

SCHEELE Für das Kurzarbeit­ergeld haben wir im vergangene­n Jahr gut 22 Milliarden Euro ausgegeben, in diesem Jahr sind es bisher bereits rund acht Milliarden. Stand jetzt kostete das Kurzarbeit­ergeld in der Krise etwa 30 Milliarden Euro. Bis Ende des Jahres dürften nach jetzigem Stand noch weitere Mehrausgab­en hinzukomme­n. Dennoch kommen wir damit immer noch deutlich günstiger davon, als wenn die Menschen arbeitslos geworden wären.

Wieso sind Sie sich da so sicher? SCHEELE Folgende Gegenrechn­ung möchte ich aufmachen: Im vergangene­n Jahr haben wir für einen Kurzarbeit­er im Jahresdurc­hschnitt rund 7800 Euro ausgegeben, für einen Arbeitslos­engeldempf­änger dagegen 20.000 Euro. Arbeitslos­igkeit wäre also fast dreimal teurer gewesen. Die psychosozi­alen Folgen der Arbeitslos­igkeit sind dabei noch gar nicht mitberücks­ichtigt.

Wie sieht es mit dem Missbrauch der Kurzarbeit aus?

SCHEELE Uns liegen rund 5100 Hinweise, keine bestätigte­n Verdachtsf­älle, auf Leistungsb­etrug vor. Bislang haben wir davon 290 an das Hauptzolla­mt weitergege­ben und 66 an die Staatsanwa­ltschaften. Wir gehen jedem Verdacht nach.

JAN DREBES UND BIRGIT MARSCHALL FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

 ?? FOTO: KAY NIETFELD/DPA ??
FOTO: KAY NIETFELD/DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany