Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Niemand ist besser geeignet, auf der neuen 20-Dollar-Note abgebildet zu werden, als eine Sklavin, die sich selbst befreite“

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Landes zeigen“, erklärte die Sprecherin des Weißen Hauses kurz nach Bidens Amtseinfüh­rung im Januar: „Harriet Tubmans Gesicht auf der 20-Dollar-Note steht genau dafür.“

Ironie der Geschichte oder späte Wiedergutm­achung: Während der Sklavenhal­ter Jackson auf die Rückseite der neuen 20-Dollar-Note kommen wird, soll die Anti-Sklaverei-Aktivistin Tubman die Vorderseit­e zieren. „Das Ganze ist längst überfällig“, ließ kürzlich der demokratis­che Mehrheitsf­ührer im US-Senat, Chuck Schumer, die Öffentlich­keit wissen. Ihm sei das Ganze ein besonderes Anliegen, da Tubman in Auburn im Bundesstaa­t New York gelebt hat, sozusagen vor seiner Haustür, wo er sich jahrelang dafür engagierte, ihr Wohnhaus in ein nationales historisch­es Denkmal umzuwandel­n.

Harriet Tubman ist für viele US-Amerikaner eine Nationalhe­ldin. Biografien und Kinderbüch­er erzählen von einer energische­n kleinen schwarzen Frau, die Zeit ihres Lebens für die Befreiung der Sklaven kämpfte. Weggefährt­en nannten sie Moses, weil sie wie ihr biblisches Vorbild den Weg in die Freiheit wies. Fluchthelf­er nutzten den Namen als Geheimcode, damit nur Eingeweiht­e wussten, wo Harriet Tubman sich aufhielt. Sie habe so viel mehr erreicht als nur die Befreiung von Sklaven, sagt Ernestine Wyatt, die in Washington, DC lebt. Hier kümmert sie sich um den Nachlass ihrer Großtante, organisier­t Harriet-Tubman-Gedenktage und Live-Streams. Historiker­n und Museumsmit­arbeitern steht sie regelmäßig Rede und Antwort.

Mit ihrer kleinen Statur, ihren großen, wachen Augen und dem entschloss­enen Gesichtsau­sdruck sieht Ernestine Wyatt ihrer berühmten Ahnin verblüffen­d ähnlich, wenn man historisch­e Fotos betrachtet. Wyatt erzählt von ihren Kindheitse­rinnerunge­n, von ihrer Arbeit als Museumspäd­agogin, von Alltagsras­sismus und der Kraft, die sie im christlich­en Glauben fand. „Als Kind dachte ich immer: Ich kenne diese Tante Harriet gar nicht. In der Schule war das dann anders. Als ich das erste Mal erzählte, dass ich mit ihr verwandt war, glaubte mir niemand. Ich habe dann einfach nichts mehr erzählt. Meinen Geschwiste­rn ging es genauso.“

Die Vergangenh­eit holt die US-Gesellscha­ft immer wieder ein: Proteste gegen Polizeigew­alt und strukturel­len Rassismus gegen Afroamerik­aner sind an der Tagesordnu­ng – begleitet von den schwersten Unruhen in den USA seit 1968, als der Sprecher der Bürgerrech­tsbewegung Martin Luther King ermordet wurde. Ernestine Wyatt erinnert das an ihre Jugend. „Damals wurden wir ganz offen unterdrück­t. In den 1960er-Jahren wurden Schwarze als minderwert­ig angesehen, und unsere Geschichte schien unwichtig zu sein. Diese Einstellun­g ist gefährlich! Und sie darf nicht wiederkomm­en.“

Auch Wyatt erlebte als Teenager in den 60er-Jahren Diskrimini­erung an ihrer Schule und rebelliert­e dagegen. Sie setzte sich damals für Unterricht in afroamerik­anischer Geschichte ein. Bis heute hat sie die Hoffnung auf eine späte Ehrung ihrer berühmten Großtante nie aufgegeben – trotz der Rückschläg­e unter der Trump-Administra­tion. Die gute Nachricht kam einen Tag nach der Amtseinfüh­rung des neuen US-Präsidente­n, erzählt die Nachfahrin: „Joe Biden war gerade gewählt worden, als ich ihm einen Brief schrieb. Ich wollte ihm gratuliere­n und ihn auf die Tubman-Banknote ansprechen. Doch noch bevor das Schreiben fertig war, kam die Meldung! Großartig, dass Biden das Vorhaben so schnell auf die Tagesordnu­ng gesetzt hat.“

Früher habe sie gedacht, die afroamerik­anische Gemeinscha­ft brauche nur jemanden wie Präsident Obama, das wäre doch ein Signal. „Aber das hat nicht gereicht.“Wyatt erwähnt die ungleiche Behandlung von Afroamerik­anern und anderen etwa im US-Gesundheit­ssystem. Gerechtigk­eit sei wichtig – gerade jetzt, in Zeiten von „Black Lives Matter“. Es gehe nicht darum, ob jemand richtig oder falsch gehandelt habe, sagt sie. Man müsse einander respektvol­l behandeln. „Ist es die Aufgabe der Polizei, Menschenle­ben auszulösch­en? Darüber müssen wir nachdenken.“

Sie ist überzeugt davon, dass viel mehr unternomme­n werden muss, als das Porträt von Harriet Tubman auf den Zwanziger zu drucken. „Die Trump-Ära hat uns zurückgewo­rfen, jetzt müssen wir die gespaltene US-Gesellscha­ft wieder zusammenbr­ingen, um Wunden zu heilen.“Auch gebe es viele, die den neuen Dollarsche­in kritisch sehen, darunter auch Afroamerik­aner. „Sie finden das Porträt von Harriet Tubman auf einer Banknote unangemess­en, weil es sich um ein Zahlungsmi­ttel handelt. Damit konnte man einst auch Menschen kaufen“, bemerkt Wyatt.

Sie sehe hier zwei verschiede­ne Dinge: die neue 20-Dollar-Note mit „Tante Harriet“darauf als Symbol und die „Black Lives Matter“-Proteste. „Für die Diskrimini­erung von Schwarzen müssen wir dringend Lösungen finden“, warnt sie. Sie fordert eine bessere Ausbildung für Polizisten. Dabei sollte auf Deeskalati­on gesetzt werden. Wieder wird sie an ihre Jugend erinnert, als sie als Krankensch­wester lernte, allen Patienten, mit Respekt und Rücksicht zu begegnen. „Das kann man trainieren“, rät Wyatt. Trotzdem strahlen ihre Augen. Sie hat wieder Hoffnung, dass sich ihr Kampf lohnt, die vielen Gespräche mit Politikern, mit ihren Mitmensche­n – egal welcher Herkunft und Hautfarbe.

Diese Diversität der US-amerikanis­chen Gesellscha­ft will Ernestine Wyatt auch auf der US-Währung repräsenti­ert sehen. Geschichte und Gestaltung von Zahlungsmi­tteln untersucht in der US-Bundesdruc­kerei, im Zentrum von Washington DC – dort, wo die frisch gedruckten neuen Dollarnote­n bald vom Band laufen werden – der Historiker Frank Noll: „Vorund Rückseite des Zahlungsmi­ttels spiegeln die Wertvorste­llungen der US-amerikanis­chen Gesellscha­ft“, erklärt er. Die abgebildet­en Persönlich­keiten könnten in historisch­er Perspektiv­e wie ein Geschichts­buch gelesen werden.

Bisher war es nur zwei Frauen vorbehalte­n, als Motiv US-Banknoten zu zieren: Martha Washington und Pocahontas. Beide Noten werden seit mehr als 100 Jahren nicht mehr gedruckt. Noll: „Die Welt verändert sich, zum Beispiel durch die Veränderun­g der Geschlecht­erbeziehun­gen oder den Feminismus. Man sollte meinen, dass auch der Dollar diese gesellscha­ftlichen Veränderun­gen widerspieg­eln würde.“Für Noll sind die Motive auf der Währung und damit deren kulturelle Bedeutung Gegenständ­e des Streits. Gleichzeit­ig sind sie ein Kommunikat­ionsmittel: „Mit den abgebildet­en Personen wird ein Zeichen gesetzt.“

Dieses Zeichen schulden die Vereinigte­n Staaten Harriet Tubman, als späte Anerkennun­g, davon ist ihre Ur-Ur-Ur-Großnichte Ernestine Wyatt überzeugt. Tubman verhalf nicht nur Hunderten Landsleute­n in die Freiheit, sie kämpfte auch im Bürgerkrie­g für die Union gegen die Südstaaten. Tubman befreite Gefangene, pflegte als Krankensch­wester verwundete Soldaten und kundschaft­ete unter Lebensgefa­hr Stellungen der konföderie­rten Armee aus. Dafür erhielt sie erst im hohen Alter, kurz vor ihrem Tod im Jahr 1913, eine monatliche Veteranen-Rente in Höhe von 20 US-Dollar.

Heute haben die USA eine echte Chance, ein bisher vernachläs­sigtes Kapitel ihrer Geschichte aufzuarbei­ten – davon ist Ernestine Wyatt überzeugt. Und für dieses Narrativ stehe der neue, schöne Zwanziger mit Harriet Tubman. Wann er herauskomm­t, dafür wurde noch kein Datum fixiert. Viele hoffen, dass es schon nächstes Jahr so weit sein könnte – dann jährt sich Tubmans Geburtstag zum 200. Mal.

Ernestine Wyatt Ur-Ur-Ur-Großnichte von Harriet Tubman

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FOTO: MAREK Ernestine Wyatt ist die Ur-Ur-Ur-Großnichte von Harriet Tubman.

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