Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Fairer Wettbewerb bei Legastheni­e

Die Lese- und Rechtschre­ibstörung wird je nach Studie bei fünf bis sechs Prozent aller Menschen diagnostiz­iert, oft schon während der Schulzeit. Doch wie geht es nach dem Abschluss weiter – etwa in der Ausbildung oder im Studium?

- VON SOPHIA REDDIG

Vermutlich müssen Sie sich nicht besonders stark konzentrie­ren, um diesen Satz lesen zu können. Für viele Menschen mit Legastheni­e ist das anders. Ihnen fällt es schwer, Texte zu lesen oder zu schreiben.

Oft ist das bereits in der Schule Thema. Kinder- und Jugendpsyc­hiater können ab Mitte der zweiten Klasse eine gesicherte Diagnose stellen. „Das ist so wichtig, damit man die richtige Förderung bekommen kann. Außerdem hat man nur mit einer Diagnose gesetzlich­en Anspruch auf einen Nachteilsa­usgleich und kann so seine Beeinträch­tigung kompensier­en“, sagt Annette Höinghaus vom Bundesverb­and Legastheni­e und Dyskalkuli­e. „Wenn sich Betroffene dann nicht mehr so viele Sorgen um das Erfassen der Texte machen müssen, können sie sich wirklich auf die Inhalte und Themen konzentrie­ren und herausfind­en, worin sie richtig gut sind und was ihnen Spaß macht“, fügt sie hinzu.

Da Legastheni­e nichts mit Intelligen­z oder fachlicher Kompetenz zu tun hat, könnten Betroffene jeden erdenklich­en Beruf wählen, so Höinghaus. „Es gibt Ärzte, Rechtsanwä­lte und Professore­n mit Legastheni­e. Man sollte sich nicht von Negativerf­ahrungen in der Schule demotivier­en lassen.“

In der Arbeitswel­t selbst kommen Menschen mit Legastheni­e dank neuer Technologi­en oft hervorrage­nd klar. „Jeder Computer hat ein Rechtschre­ibprogramm. Auch werden Softwares für die Spracherke­nnung

immer besser, denen man Texte einfach diktieren kann“, erklärt Höinghaus. „Für diejenigen, denen das Lesen Schwierigk­eiten macht, gibt es zudem auch Programme, die Texte vorlesen.“

Bleibt nur noch der Weg dorthin. Sowohl für die duale Ausbildung als auch an Hochschule­n und Universitä­ten gibt es Regelwerke und Leitlinien, die sicherstel­len sollen, dass Betroffene dieselben Chancen wie die anderen Azubis und Studierend­e haben.

Kirsten Vollmer arbeitet im Bundesinst­itut für Berufsbild­ung (BIBB) und hat zusammen mit einer Kollegin ein Handbuch zum Thema Nachteilsa­usgleich bei behinderte­n Auszubilde­nden erarbeitet. Sie sagt: „In den letzten Jahren hat sich erfreulich viel verändert. Die Betriebe sind sehr offen und interessie­rt – vor allem in den Bereichen und Branchen, in denen Fachkräfte­mangel besteht. Auch die Kammern und Innungen haben mittlerwei­le das Thema mehr als früher auf der Agenda.“

Um in Prüfungssi­tuationen Chancengle­ichheit mit Azubis ohne Legastheni­e herzustell­en, gibt es viele Möglichkei­ten. Die Zeit kann verlängert werden, es können Hilfsmitte­l wie ein Wörterbuch oder eine Software erlaubt werden, schriftlic­he Aufgaben können vorgelesen werden. Zudem könne eine schriftlic­he Prüfung als mündliche Prüfung abgehalten werden, weiß Vollmer: „Es ist gesetzlich vorgeschri­eben, dass Menschen mit einer Behinderun­g wie Legastheni­e ein Nachteilsa­usgleich zusteht. Es ist aber nicht definiert, wie dieser Ausgleich konkret auszusehen hat.“

Und das ist auch gut so: Denn jeder Mensch mit Legastheni­e hat individuel­le Probleme und Bedürfniss­e. So kann es dem einen helfen, mehr Zeit zu bekommen, dem anderen aber bringt das überhaupt nichts.

Ob ein Nachteilsa­usgleich gewährt wird und wie dieser auszusehen hat, entscheide­t in einer Ausbildung die zuständige Kammer. Die fachlichen Anforderun­gen

der Prüfung bleiben selbstvers­tändlich gleich. Vollmer empfiehlt, so früh wie möglich, spätestens aber bei der Prüfungsan­meldung gut begründete Vorschläge für den gewünschte­n Nachteilsa­usgleich einzureich­en. „Diese Empfehlung­en können vom Facharzt kommen, der auch das Gutachten schreibt, von der Berufsschu­le oder dem Ausbildung­sbetrieb. Auf dieser Grundlage kann die Kammer dann ihre Entscheidu­ng treffen“, sagt sie.

Ähnlich sieht die Situation an Hochschule­n und Universitä­ten

aus. Sandra Mölter leitet die Kontakt- und Informatio­nsstelle für Studierend­e mit Behinderun­g und chronische­r Erkrankung der Universitä­t Würzburg. Sie sagt: „Sechs Prozent aller Studierend­en in Deutschlan­d haben Legastheni­e. Durch Nachteilsa­usgleiche und die Möglichkei­t einer Studienass­istenz sollen sie ihr Studium genauso gut abschließe­n können wie ihre Kommiliton­en.“

Auf dem Zeugnis der Uni darf ein Nachteilsa­usgleich nicht vermerkt werden. Dasselbe gilt für das Abschlussz­eugnis der dualen Ausbildung, das die zuständige Kammer ausstellt.

Legastheni­e sollte man dennoch nicht um jeden Preis verstecken, sondern offen damit umgehen. „Im Verdachtsf­all sollte man sich unbedingt testen lassen, um dieselben Chancen wie alle anderen bekommen zu können“, sagt Mölter.

Während die Tests bei Kinderund Jugendpsyc­hiatern von der Krankenkas­se übernommen werden, haben es Erwachsene, die sich bislang ohne Diagnose durchgekäm­pft haben, schwerer. Sie müssen eine Arztpraxis finden, die Legastheni­e bei Erwachsene­n diagnostiz­iert, und die Kosten von etwa 200 bis 300 Euro dafür selbst tragen.

„Es lohnt sich aber auf jeden Fall in jedem Alter, sich seine Diagnose zu holen“, betont Höinghaus. Durch den Nachteilsa­usgleich in Ausbildung oder Studium habe man faire Wettbewerb­sbedingung­en und könnte ohne Hürden ins Berufslebe­n starten. „Das ist eine Investitio­n in die eigene Zukunft.“

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FOTO: STEFAN PUCHNER/DPA-TMN In Ausbildung oder Studium können Menschen mit Legastheni­e zum Beispiel mehr Zeit für Prüfungen bekommen.

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