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Die kleinen Freiheiten im Lockdown

Deutschlan­ds größtem Campingpla­tz hat die Pandemie einen Millionens­chaden verursacht. Mehr als 500.000 Übernachtu­ngen fehlen den Betreibern. Nur Dauercampe­r dürfen auf der Grav-Insel in Wesel hausen.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

WESEL Seit fast 40 Jahren haben Bruno (71) und Gitti (73) ihre Parzelle auf der Grav-Insel in Wesel, Deutschlan­ds größtem Campingpla­tz. Seit 18 Jahren ist dort sogar ihr fester Wohnsitz. Das Ehepaar aus Duisburg kann sich ein Leben woanders nicht mehr vorstellen. Auch die Pandemie ändert daran nichts. Der Zusammenha­lt unter den Dauercampe­rn ist in der Zeit sogar noch größer geworden. „Egal wer: Alle achten aufeinande­r“, sagt Bruno. „Wir fühlen uns hier absolut sicher vor einer Ansteckung. Ich wüsste nicht, wo wir uns sicherer fühlen könnten als hier.“

Wegen der Corona-Einschränk­ungen dürfen seit März 2020 nur noch Dauercampe­r auf der Grav-Insel übernachte­n. Immerhin 4000 sind es aktuell noch, die auf Europas zweitgrößt­en Campingpla­tz leben, nur eine Anlage am Gardasee in Italien ist noch größer. Auf der Grav-Insel können normalerwe­ise 12.000 Menschen gleichzeit­ig campen. Das wird aber frühestens 2022 wieder so sein. „Ich habe die diesjährig­e Saison bereits abgeschrie­ben. Für alle, die keine Dauercampe­r sind, bleibt der Platz auch in diesem Jahr zu“, sagt Frank Seibt, der den 1969 eröffneten Campingpla­tz von seinem Vater übernommen hat. „Wir können halt nur von Saison zu Saison blicken. Ich blicke jetzt bis Oktober. Dann ist die Saison wieder zu Ende. Und dann zum zweiten Mal ohne Tourismus.“

Der finanziell­e Schaden geht in die Million. „500.000 Übernachtu­ngen sind mir entgangen, weil ich zumachen musste. Und hinzu kommt natürlich der Ausfall durch die Gastronomi­e“, sagt Seibt. Dennoch hat er keinen seiner rund 100 festen Mitarbeite­r in Kurzarbeit geschickt oder gar gekündigt. „Das könnte ich nicht. Viele arbeiten schon seit Jahrzehnte­n für mich und meine Familie“, sagt Seibt. An die Politik hat der Campingpla­tz-Betreiber keine besonderen Wünsche. „Die können ja auch nichts machen. Wir alle befinden uns im Krieg gegen das Virus“, sagt er. „Wir alle müssen jetzt schauen, wie es weitergeht.“

Die 2000 Parzellen für die Dauercampe­r haben jeweils einen eigenen Frisch- und Abwasseran­schluss und sind ans Stromnetz angebunden; die allgemeine­n Sanitäranl­agen sind derzeit aus Hygienegrü­nden geschlosse­n. Das Restaurant mit 500 Sitzplätze­n, Streichelz­oo, Kinderspie­lplätze und Indoor-Spielhalle – auch sie haben zu. Aufs Gelände kommt man nur mit einem negativen Corona-Test. Besucher dürfen die Dauercampe­r nicht empfangen. Auch der Postbote darf nicht zu den Parzellen. Er gibt die Pakete und Briefe am Eingang ab, wo 320 Briefkäste­n bereitsteh­en. „Wir sind hier

dicht“, sagt Seibt. „Das Einzige, was wir hier noch machen dürfen, ist der Imbiss mit Essen zum Mitnehmen“, sagt er.

Geöffnet hat noch der Supermarkt auf dem Platz, eine Edeka-Filiale. „Derzeit arbeiten nur vier von meinen insgesamt 25 Mitarbeite­rn hier“, sagt Filialleit­erin Ulrike Schöffel. „Für uns ist es mau wegen Corona. Die Dauercampe­r sind zu wenig. Wir machen unser Geschäft mit den

Touristen, die nicht kommen dürfen“, sagt sie. Sie muss kämpfen, damit der Laden erhalten bleibt. Das Sortiment hat sie verkleiner­n müssen – insbesonde­re beim Obst und Gemüse. Auch gekühlte Getränke bietet sie nicht mehr an – so spart sie bei den Stromkoste­n. „Wir fahren auf absoluter Sparflamme. Da, wo wir Kosten drücken können, drücken wir“, sagt sie. Ähnlich sieht es in der Bäckerei des Campingpla­tzes aus.

Camper in Deutschlan­d fordern trotz der Pandemie die Öffnung der Plätze. Am vergangene­n Wochenende haben rund 1000 Camping-Freunde in Berlin mit Wohnmobile­n und Wohnwagen für eine sofortige Öffnung der Stell- und Campingplä­tze demonstrie­rt. Sie fuhren in einem sehr langen Wohnmobil-Korso. Der übliche Saisonstar­t an Ostern war auf den deutschen Campingplä­tzen in diesem Jahr der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. Nur Dauercampe­r dürfen wie in Wesel in den meisten Bundesländ­ern ihre Wohnwagen beziehen. Die Branche hofft nun auf Lockerunge­n vor den langen Wochenende­n im Mai. Eine Online-Petition fand bislang gut 44.000 Unterstütz­er.

„Camping mit Abstand ist mit Abstand die beste, sicherste und kontaktärm­ste Regenerati­onsform für unsere Familien“, betonte die Initiative. „Die langen Einschränk­ungen des jetzigen Lockdowns nagen immer mehr an den Menschen und den Familien, viele sehnen sich Öffnungssc­hritte herbei“, heißt es bei den Camping-Freunden. Gebraucht würden sichere Bereiche, um Familien Luft zum Durchatmen zu geben.

Der 71-jährige Camping-Bewohner Bruno hat früher bei Thyssen am Hochofen gearbeitet; schon während dieser Zeit hat er auf der Grav-Insel gelebt. „Wir haben hier alles, was wir wollen“, sagt er. Die Vorgaben zur Einhaltung der Corona-Schutzvero­rdnung findet Bruno gut. „Die kann ich nur unterschre­iben, mit ganz vielen Ausrufezei­chen. Gerade weil viele ältere Menschen auf der Anlage leben.“Wenn ein Nachbar zu Besuch kommt, wird Abstand gehalten. Oder man unterhält sich über die Hecke: „Das machen wir Camper sowieso.“

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FOTOS (2): C. REICHWEIN Die Dauercampe­r Gitti (73) und Bruno (71) Skubski auf ihrer Parzelle.
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Frank Seibt, Chef des Campingpla­tzes auf der Grav-Insel in Wesel.

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