Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Indien ringt nach Luft

Die Situation ist dramatisch: Während die Kliniken die CoronaKran­ken nicht mehr versorgen können, weil ihnen der Sauerstoff ausgeht, kümmert sich die Regierung vor allem um ihre Außendarst­ellung.

- VON AGNES TANDLER

NEU DEHLI „Wir machen keine Stopps, keine Pause, um was zu essen“, berichtet Krankenwag­enfahrer Premchand. Er fährt Corona-Patienten durch Indiens Hauptstadt Neu-Delhi und umliegende Regionen, in der Hoffnung, dass sich irgendwo ein freies Bett mit Sauerstoff findet. In den vergangene­n sieben Tagen ist Premchand nicht daheim gewesen. „Ich habe noch nie so eine Situation erlebt“, sagt der 39-Jährige dem „Indian Express“. „Wir haben keine Zeit zum Luftholen“, schildert die Ärztin Geetika Sharma ihren Arbeitsall­tag: Zwischen 16 und 18 Stunden verbringt sie jeden Tag im Asian Hospital nahe der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. „Alle Angestellt­en leiden, körperlich und seelisch“, klagt Sharma. „Die Lage ist katastroph­al.“

Die Regierung von Neu-Delhi verlängert­e am Sonntag die Lockdown-Maßnahmen um eine weitere Woche bis zum 3. Mai. Experten gehen davon aus, dass der Höhepunkt der jetzigen Welle erst Mitte Mai erreicht wird und erwarten erst dann wieder ein Sinken der Zahlen.

Diese neue Corona-Welle hat Indiens Kliniken förmlich überrollt. Es fehlt an Betten, Sauerstoff und Medikament­en. Am Sonntagmor­gen gab es in der 30-Millionen-Metropole Neu-Delhi nur noch ein einziges Bett mit Beatmungsg­erät auf einer Intensivst­ation. Weil die Versorgung mit medizinisc­hem Sauerstoff immer wieder unterbroch­en ist, haben Kliniken begonnen, ihre Plätze für Covid-19-Patienten zu verringern.

Das staatliche Rajiv Gandhi Super Specialty Hospital in Delhi unterhält nur noch 350 statt 650 Betten für die Versorgung von Corona-Infizierte­n mit schwerem Krankheits­verlauf. Ständig senden Krankenhäu­ser in der Hauptstadt Hilferufe aus, dass ihr Vorrat an medizinisc­hem Sauerstoff nur noch wenige Stunden reichen werde. Am Freitag starben in der Stadt Jaipur 20 Corona-Patienten, weil die Klinik keinen Sauerstoff mehr hatte.

Auch Indiens Krematorie­n und Friedhöfe stoßen angesichts der vielen Toten an ihre Grenzen. An den Verbrennun­gsstätten brennen Tag und Nacht die Scheiterha­ufen, während Angehörige ihre Verstorben­en bringen. Im Krematoriu­m in Ghazipur musste ein Parkplatz umgewandel­t werden, um weitere 20 Verbrennun­gsplätze zu schaffen.

Während die Corona-Krise zu eskalieren droht, kümmert sich Indiens Regierung unter dem hindu-nationalis­tischen Premiermin­ister Narendra Modi mehr um die Optik. Das soziale Netzwerk Twitter löschte auf Wunsch seiner Regierung Dutzende kritische Tweets, die sich mit dem Versagen in der Krise auseinande­rsetzen – darunter auch den Beitrag des Politikers Moloy Ghatak aus West-Bengalen, in dem Modi mit dem römischen Kaiser Nero verglichen wird. Nicht nur Ghatak ist es bitter aufgestoße­n, dass Modi sich augenschei­nlich mehr für die wichtige Wahl in West-Bengalen interessie­rt als für eine rasche Eindämmung der Krise.

Der Ministerpr­äsident des indischen Bundesstaa­tes Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, der bereits als möglicher Nachfolger von Modi gehandelt wird, bestritt ganz einfach, dass es in seinem Bundesstaa­t mit einer Bevölkerun­g von über 200 Millionen Einwohnern irgendeine­n Mangel an Sauerstoff gebe. Dutzende Angehörige von Corona-Kranken widersprac­hen daraufhin dem hindu-nationalis­tischen Politiker auf Twitter. Fotos und Videos von weinenden und flehenden Menschen vor den Kliniken, die nach Sauerstoff und einem Bett suchten, zeigten ein völlig anderes Bild der Lage.

Adityanath wird auch beschuldig­t, die Corona-Todeszahle­n in seinem Bundesstaa­t geschönt zu haben. Journalist­en, die vielerorts die Angaben von Krematorie­n mit den offizielle­n Zahlen der Regierung von Uttar Pradesh verglichen, kamen zu dem Schluss, dass die meisten Toten gar nicht in die Statistik aufgenomme­n worden sind. In der Stadt Kanpur zählte der Video-Journalist Arun Sharma am Samstag 476 Feuerbesta­ttungen. Offiziell gab es aber in Kanpur an diesem Tag nur drei Corona-Tote. Die traurige, aber naheliegen­de Schlussfol­gerung: Indiens wahre Corona-Todeszahle­n könnten zehnmal höher sein, als die Statistik es ausweist.

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FOTO: ALTAF QADRI/DPA Ein Corona-Patient wird in einem Auto vor einer Sikh-Anbetungss­tätte in Neu-Dehli mit Sauerstoff versorgt.
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FOTO: RAJANISH KAKADE/DPA Menschen warten vor einem Corona-Impfzentru­m in Mumbai darauf, das Vakzin gespritzt zu bekommen.

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