Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Nicht jeder wird bis Juni ein Impfangebo­t erhalten können“

Der Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung über den Fortschrit­t beim Impfen und warum die Priorisier­ungen aufgehoben werden sollten.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der Impfkampag­ne in den Hausarztpr­axen?

GASSEN Das Impfen in den Praxen hat von Beginn an gut funktionie­rt, es wurde aus dem Stand erfolgreic­h losgelegt. Wir gehen davon aus, dass es bei den Fachärzten genauso laufen wird, später dann auch bei den Betriebsär­zten. Das Problem waren zu Beginn die wechselnde­n Impfstoffm­engen der unterschie­dlichen Präparate, das scheint sich allmählich einzupende­ln, die Mengen steigen deutlich. Das ist positiv. Schwierig war und ist für unsere Ärzte allerdings die Diskussion um Nebenwirku­ngen und die wechselnde­n Anwendungs­empfehlung­en erst mit Astrazenec­a, jetzt möglicherw­eise auch mit Johnson & Johnson. Es gibt natürlich seltene aber durchaus relevante Nebenwirku­ngen, aber die Impfstoffe schützen. Gemessen an dem Risiko zu erkranken, fallen die Nebenwirku­ngen deutlich weniger ins Gewicht.

Sollte man die Impfpriori­sierung nach Ihrer Einschätzu­ng jetzt aufheben?

GASSEN So wichtig diese zu Beginn des Impfens war, so wichtig ist es jetzt, die Breite der Bevölkerun­g sehr schnell zu impfen. Herdenimmu­nität bekommen wir nur dann, wenn wir nicht nur Alte und Hochbetagt­e impfen, sondern vor allem die Menschen, die viele Kontakte haben. Um einen Effekt wie in Israel, in den USA oder dem Vereinigte­n Königreich zu erreichen, muss mehrheitli­ch die arbeitende Bevölkerun­g mit ihren Angehörige­n geimpft werden. Dafür muss die Priorisier­ung fallen. Einen exakten Zeitpunkt zu benennen, ist allerdings wegen der Impfstoffl­ieferungen schwierig. Natürlich wird nicht jeder bis Juni ein Impfangebo­t erhalten können, ganz allein aus organisato­rischen Zwängen. Aber die Kollegen sollten möglichst schnell mehr Beinfreihe­it und Rechtssich­erheit beim Impfen bekommen. Ob es Impfneid, wie es häufig zu lesen war, wirklich gibt, kann ich nicht beurteilen – es wäre aber wirklich absurd. Jeder Geimpfte ist ein Gewinn für die Gesellscha­ft. Viele Rückschläg­e können wir uns in der Bekämpfung der Pandemie auch nicht mehr leisten, die Bevölkerun­g ist mental ziemlich am Ende. In den Arztpraxen spielen sich teils dramatisch­e Szenen ab.

Wie schätzen Sie die Impfbereit­schaft ein?

GASSEN Die Impfbereit­schaft ist insgesamt groß, die Verunsiche­rung bei

Astrazenec­a war natürlich nicht gut. Aber der Schutz vor schweren Erkrankung­en mit eventuell tödlichen Verläufen ist mit der Impfung gegeben. Das muss man wissen. Meine Sorge wäre, dass wir im Sommer möglicherw­eise vor dem Problem stehen, dass die Impfungen greifen, die Infektione­n sinken und dann manch einer die Notwendigk­eit für eine Impfung nicht mehr sieht. Aber wir brauchen eine Herdenimmu­nisierung, sonst geht im Herbst das ganze Elend wieder von vorne los. Bis dahin muss eine Herdenimmu­nität hergestell­t sein – unbedingt.

Sollen Geimpfte mehr Freiheiten erhalten?

GASSEN Jemandem, der geimpft, ist, seine Grundrecht­e weiter zu entziehen, halte ich rechtlich für sehr schwierig und medizinisc­h für kaum begründbar. Spätestens wenn die Herdenimmu­nität erreicht ist, können alle Maßnahmen, das sieht auch Professor Wieler vom Robert-Koch-Institut wohl so, entfallen. Eine Inzidenz von Null werden wir wohl nie erreichen, das klappt bisher nirgendwo auf der Welt. Man bekommt das Virus in den Griff, aber nicht so einfach ausgerotte­t. Deswegen müssen wir zügig impfen, es darf keine Dosis liegen bleiben, wir müssen den durch die mangelnde EU-Impfstoffb­estellung verlorenen Boden wieder gutmachen.

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Andreas Gassen

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