Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Nicht jeder wird bis Juni ein Impfangebot erhalten können“
Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung über den Fortschritt beim Impfen und warum die Priorisierungen aufgehoben werden sollten.
Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der Impfkampagne in den Hausarztpraxen?
GASSEN Das Impfen in den Praxen hat von Beginn an gut funktioniert, es wurde aus dem Stand erfolgreich losgelegt. Wir gehen davon aus, dass es bei den Fachärzten genauso laufen wird, später dann auch bei den Betriebsärzten. Das Problem waren zu Beginn die wechselnden Impfstoffmengen der unterschiedlichen Präparate, das scheint sich allmählich einzupendeln, die Mengen steigen deutlich. Das ist positiv. Schwierig war und ist für unsere Ärzte allerdings die Diskussion um Nebenwirkungen und die wechselnden Anwendungsempfehlungen erst mit Astrazeneca, jetzt möglicherweise auch mit Johnson & Johnson. Es gibt natürlich seltene aber durchaus relevante Nebenwirkungen, aber die Impfstoffe schützen. Gemessen an dem Risiko zu erkranken, fallen die Nebenwirkungen deutlich weniger ins Gewicht.
Sollte man die Impfpriorisierung nach Ihrer Einschätzung jetzt aufheben?
GASSEN So wichtig diese zu Beginn des Impfens war, so wichtig ist es jetzt, die Breite der Bevölkerung sehr schnell zu impfen. Herdenimmunität bekommen wir nur dann, wenn wir nicht nur Alte und Hochbetagte impfen, sondern vor allem die Menschen, die viele Kontakte haben. Um einen Effekt wie in Israel, in den USA oder dem Vereinigten Königreich zu erreichen, muss mehrheitlich die arbeitende Bevölkerung mit ihren Angehörigen geimpft werden. Dafür muss die Priorisierung fallen. Einen exakten Zeitpunkt zu benennen, ist allerdings wegen der Impfstofflieferungen schwierig. Natürlich wird nicht jeder bis Juni ein Impfangebot erhalten können, ganz allein aus organisatorischen Zwängen. Aber die Kollegen sollten möglichst schnell mehr Beinfreiheit und Rechtssicherheit beim Impfen bekommen. Ob es Impfneid, wie es häufig zu lesen war, wirklich gibt, kann ich nicht beurteilen – es wäre aber wirklich absurd. Jeder Geimpfte ist ein Gewinn für die Gesellschaft. Viele Rückschläge können wir uns in der Bekämpfung der Pandemie auch nicht mehr leisten, die Bevölkerung ist mental ziemlich am Ende. In den Arztpraxen spielen sich teils dramatische Szenen ab.
Wie schätzen Sie die Impfbereitschaft ein?
GASSEN Die Impfbereitschaft ist insgesamt groß, die Verunsicherung bei
Astrazeneca war natürlich nicht gut. Aber der Schutz vor schweren Erkrankungen mit eventuell tödlichen Verläufen ist mit der Impfung gegeben. Das muss man wissen. Meine Sorge wäre, dass wir im Sommer möglicherweise vor dem Problem stehen, dass die Impfungen greifen, die Infektionen sinken und dann manch einer die Notwendigkeit für eine Impfung nicht mehr sieht. Aber wir brauchen eine Herdenimmunisierung, sonst geht im Herbst das ganze Elend wieder von vorne los. Bis dahin muss eine Herdenimmunität hergestellt sein – unbedingt.
Sollen Geimpfte mehr Freiheiten erhalten?
GASSEN Jemandem, der geimpft, ist, seine Grundrechte weiter zu entziehen, halte ich rechtlich für sehr schwierig und medizinisch für kaum begründbar. Spätestens wenn die Herdenimmunität erreicht ist, können alle Maßnahmen, das sieht auch Professor Wieler vom Robert-Koch-Institut wohl so, entfallen. Eine Inzidenz von Null werden wir wohl nie erreichen, das klappt bisher nirgendwo auf der Welt. Man bekommt das Virus in den Griff, aber nicht so einfach ausgerottet. Deswegen müssen wir zügig impfen, es darf keine Dosis liegen bleiben, wir müssen den durch die mangelnde EU-Impfstoffbestellung verlorenen Boden wieder gutmachen.