Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Pink Floyd und das Echo der Welt
„The Dark Side of the Moon“und „Wish You Were Here“machten die Musiker weltberühmt. Doch ihr Kosmos ist viel reicher und weiter.
Wir müssen uns Pink Floyd in den Jahren um 1970 wie ein Start-up vorstellen, das ohne seinen Gründer weitermachen muss. Ihr Großraumbüro verlegen sie oft ins Tonstudio, in dem die vier Männer geniale Bastelarbeiten verrichten. An der Wand hängt das Porträt des Verlorenen, es ist Syd Barrett. Sie machen Musik, die sich befreien will vom stupiden Dröhnen und von hammerharten Rhythmen anderer Rockbands. Sie streben zu neuen Zielen, sie sehnen sich nach Entrückung und der Erweiterung des Bewusstseins – ohne Drogen und gern auch mit leisen Mitteln. Gemäß ihrer studentischen Herkunft werden die Musiker zu Architekten der Trance. Aber sie schließen sich nicht im Räucherzimmer ein. Sie sperren die Fenster und die Ohren auf – für das Echo der Welt. Das hat etwas Maßloses. Aber es ist auch konsequent.
Der „Progressive Rock“von Pink Floyd (aus seiner Vorform, dem „psychedelischen Rock“, entstanden) entwickelte sich in den 70ern zu einer gigantischen Erfolgsnummer, „The Dark Side of the Moon“wurde zu einem der meistverkauften Alben überhaupt. Dabei schaukelte die Band durch die Welt wie eine Arche, die sich ebenso liebevoll wie heroisch um alle Dinge, Erscheinungen und Gestalten kümmerte. Alles musste mit, nichts durfte zurückbleiben: nicht die Radionachrichten (am Beginn von „Wish You Were Here“), nicht das Geheul der Hunde („Seamus“und „Dogs“), nicht die Gesänge der Fußballfans („Fearless“) oder der Eingeborenen („Absolutely Curtains“). Geräusche des Alltags erlebten ihre Veredelung, Registrierkassen („Money“) und Echolote („Echoes“) rhythmisierten den Soundtrack des Lebens, sogar der Wind („One of These Days“), Herzschläge („Eclipse“) oder unergründliches Geplauder („Speak to Me“) durften nicht fehlen auf der Arche der Klänge, auf der Pink Floyd die Welt zu konservieren suchte.
Pink Floyd kletterten fortwährend über jene stilistischen Grenzlinien, die anderswo, etwa in manchen Kleingärtnervereinen, scharf bewacht werden. Das führte zu Ermahnungen: Kaum leisteten sie sich den leicht quengeligen GypsySwing von „San Tropez“, fuhren die Sittenwächter dazwischen: zu leicht. Kaum erklang die frühe Country-Ballade „If“, maulten sie: zu betulich. Von Pink Floyd erwartete man das Pathos, das Existenzialistische, das Erhabene. Diese Imperative aber gingen den Musikern gegen den Strich.
Denn zur Wahrheit von Pink Floyd zählte auch die launig-enge musikalische Teeküche gleich neben dem zunehmend von Elektronik zugestellten Großraumbüro. Bisweilen konnten sie einfach und leger miteinander musizieren, sie konnten einander die Bälle zuwerfen und zu einer agilen Kommunikation finden, die mancher den akribischen Ingenieuren
des Klangs gar nicht zugetraut hatte. So kam es beispielsweise zu dem bis heute unterschätzten Album „Obscured by Clouds“von 1972, das auf einem Soundtrack für einen Film des Regisseurs Barbet Schroeder basiert. In nur zwei Wochen wurde es in Frankreich aufgenommen, es sind ein paar Winzlinge darin, die aber – hört man sie aufrichtig und unvoreingenommen – höchste Wirkung entfalten, etwa „Burning Bridges“oder „Mudmen“.
„Obscured by Clouds“bedeutete andererseits die erste Beschäftigung mit dem bereits legendären Synthesizer EMS VCS 3, den White Noise schon 1969 auf ihrem Debütalbum „An Electric Storm“ausprobiert hatten: ein Akt der Manipulation des
Klangs, der sogleich andere Bands entzündete, etwa Tangerine Dream oder Roxy Music. Das freundliche, die Beatles per virtuellem Handschlag begrüßende „Wot’s … Uh the Deal“ist dagegen wieder ein Stück, bei dem sich Pink Floyd gewissermaßen von Pink Floyd erholten. Das taten sie gern.
Ja, Pink Floyd liebten die Unberechenbarkeit, wobei ein Zug ins Kommerzielle nicht ausblieb. Indes gab es musikalische Konstanten, denen die freien Vier („Free Four“) treu blieben. Melodien streben nicht nach Zustimmung, nicht nach Antwort, häufig sind sie nur aus Sekundschritten gebaut, Quarten wirken fast schon wie Stabhochsprünge, es ist ein Tasten durch die Linien, das aber von exzentrischen Harmonien und sphärischen Klängen fast sonnenlichthaft bestrahlt wird.
Ein Musterbeispiel ist „Us and Them“. Die langsame, von David Gilmour hingebungsvoll gesungene Melodie auf dem saftigen Orgelbeet von Rick Wright kommt fast nicht von der Stelle, wird von ihrem eigenen Hall schier eingesaugt, bis völlig unerwartet ein übermäßiger Akkord aus Terzen aufragt, der wie eine Sensation, wie ein Mirakel wirkt. Und wenn man dann die phänomenale h-Moll-Ebene betritt, geht der Himmel auf. Ist das nicht schon Pop? Passt nicht die Musik seltsam wenig zu Roger Waters’ Text, der zermürbend vom Kampf redet? Ach, Pink Floyd versöhnten eben alles, verschraubten Lyrik, Wrights Hammond-Himmel und die Unterwelt von Roger Waters’ Bass. Im Hintergrund wirkte stets Nick Mason, der zwar nie der größte Drummer unter der Sonne, aber das heilende Element der innerbetrieblich etwas unruhigen Gruppe war.
Pink Floyd haben sich an der Welt berauscht und sie mit neuer Nahrung gespeist. Natürlich waren hin und wieder ein paar Umdrehungen zu viel im Angebot, obskure Suiten („Atom Heart Mother“) standen neben wirklich läppischen Blues-Nummern, aber wenn sie die Aggregate hochfuhren, vergaßen die Hörer zuweilen das Atmen, nicht nur im Album „Meddle“, sondern vor allem in „Animals“, dessen Sozialkritik von George Orwell beeinflusst war. Auf „Animals“hat die Arche alle geborgen, die Guten und die Bösen, und zwischen all den Bastelarbeiten aus dem Großraumbüro hört man hier unverfälschten Rock. Etliche Kenner halten „Animals“für ein dunkel glühendes Meisterwerk, das zu Unrecht im Schatten anderer Alben steht. Dagegen ist „The Wall“ein wenig überschätzt, es ist sozusagen eher Konzept als Album.
Viele von uns haben eine Pink-Floyd-Lieblingsstelle oder ein Pink-Floyd-Urerlebnis. Ja, bei dieser Band ist Magie im Spiel. Wer zu ihr geht, sollte jedenfalls die Uhr ausziehen. Manche Stücke überschreiten die Länge herkömmlicher Songs um ein Vielfaches. Aber wer „Shine On You Crazy Diamond“oder vor allem „Echoes“nicht nur als feierlich-geheimnisvolle Klangfolie, als raunendes Kontinuum hört, sondern als Befreiung von den Regularien der Zeit, der kann mit Pink Floyd die Wanne volllaufen lassen. Und dann gewiss sein, dass er nicht nur in Sound, sondern in Kunst badet – auch wenn in diesem Moment nur David Gilmour seine Gitarre spielt, unverstärkt, scheu und der einsamste Start-up-Unternehmer dieser Welt.