Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Türken stürmen Schnapsläden
Erdogans neuer Lockdown enthält ein Verkaufsverbot für Alkohol. Corona sei nur Vorwand, sagen Kritiker.
ISTANBUL Hüfthoch gestapelt stehen die Weinkisten im Eingang zu einer Istanbuler Spirituosenhandlung: Die Flaschen kommen gar nicht mehr ins Regal, so schnell werden sie derzeit verkauft. Nur bis Donnerstagabend noch, dann darf in der Türkei knapp drei Wochen lang kein Alkohol mehr verkauft werden.
Deshalb gibt es jetzt einen Ansturm auf Bier, Wein und Schnaps: Viele Türken legen noch schnell Vorräte an. Die Regierung hat einen neuen Corona-Lockdown verordnet, der bis Mitte Mai dauern soll, und diesmal ist nicht nur der Ausschank alkoholischer Getränke in Kneipen und Lokalen untersagt, sondern das Verbot betrifft auch den Verkauf im Laden, im Kiosk und im Supermarkt. Kritiker werfen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, der türkischen Gesellschaft damit ihre islamischen Werte aufzwingen zu wollen. Mit dem Sturm auf die Schnapsläden verkehrt sich der Islamisierungsversuch aber ins Gegenteil: Ausgerechnet im Ramadan ist Alkohol der Verkaufsschlager im Land.
Mit der landesweiten Ausgangssperre, die bis zum 17. Mai gelten soll, will Erdogan die hohen Infektionszahlen drücken, die zuletzt über 60.000 pro Tag erreichten; die Metropole Istanbul hat eine Sieben-Tage-Inzidenz
von 850. Bis zum Ende des Ramadan müsse die tägliche Zahl der Neuinfektionen unter 5000 sinken, sagt der Präsident.
Die Bürger dürfen bis dahin nur zum Einkaufen aus dem Haus; Reisen innerhalb der Türkei sind nur mit Sondergenehmigung erlaubt. Die drastischen Maßnahmen sollen die dritte Corona-Welle brechen und die Sommersaison im Tourismus retten: Europäische Urlauber sollen nicht durch hohe Infektionszahlen abgeschreckt werden, einen Aufenthalt in der Türkei zu buchen.
Das Alkoholverbot wird im Regierungserlass für den neuen Corona-Lockdown nicht erwähnt – die Anweisung sei den betroffenen Unternehmen von den Gouverneursämtern erteilt worden, berichten türkische Medien. Innenminister Süleyman Soylu bestätigte, Spirituosenhandlungen müssten geschlossen bleiben, weil sie wie Schuhgeschäfte oder Boutiquen
nicht systemrelevant seien. Supermärkte und Lebensmittelläden, die während des Lockdowns geöffnet bleiben, dürfen allerdings ebenfalls keinen Alkohol verkaufen – um den geschlossenen Schnapsläden keine „unlautere Konkurrenz“zu machen, wie es heißt.
Die Entrüstung über dieses Alkoholverbot durch die Hintertür ist groß. Regierungskritiker sehen den Bann als Teil einer Langzeitstrategie von Erdogans islamisch-konservativer Regierung. Die Pandemie diene der Regierung lediglich als Vorwand für das Alkoholverbot, schimpfte der frühere Kulturminister Fikri Saglar. Die Regierung habe zuerst die Alkoholsteuern angehoben, dann den Verkauf von Alkohol nach 22 Uhr verboten, schließlich das Verkaufsverbot an Wochenenden eingeführt, zählte der Politologe Özgün Emre Koç die Entwicklung der letzten Jahre auf Twitter auf; jetzt folge das mehrwöchige Verbot. Der
Journalist Mehmet Yilmaz von der Nachrichtenplattform T24 warnte, die Regierung werde das Alkoholverbot bei der nächsten Gelegenheit noch ausweiten.
Özgür Aybas, Verbandschef der Spirituosenhändler, erwartet den Bankrott von vielen der 160.000 Läden, wenn sie zweieinhalb Wochen lang geschlossen bleiben müssen. Sein Verband werde gegen das Verbot klagen, kündigte Aybas im Fernsehsender Arti TV an: Erstens sage der Lockdown-Erlass nichts über Alkohol, und zweitens dürften Moscheen und Banken im Lockdown ja auch offen bleiben.
Erdogans Anhänger sehen die wütenden Reaktionen auf das mehrwöchige Verbot mit Schadenfreude. „Werdet ihr daran etwa sterben?“, fragte Ali Karahasanoglu, Kolumnist der islamistischen Zeitung „Yeni Akit“. In anatolischen Kleinstädten, in denen kaum Alkohol getrunken wird, spielt das Verbot keine Rolle. Aufregung gibt es in den Metropolen sowie in den Küstenregionen von Mittelmeer und Ägäis – Hochburgen der Opposition gegen Erdogan.
Wenn der Präsident mit dem Alkoholverbot seine Gegner ärgern will, dann hat er sein Ziel erreicht. Doch wenn er den Türken das Trinken abgewöhnen wollte, dürfte er ein Eigentor geschossen haben: Hersteller sagen, sie verkauften derzeit so viel Alkohol wie sonst nur zu Silvester.