Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Heldin, die keine sein wollte

Vor 100 Jahren wurde Sophie Scholl geboren. Sie verkörpert den Widerstand, auf sie beziehen sich Politiker und Aktivisten bis heute. Nicht immer einwandfre­i.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Eine knappe Stunde vor Anbruch des 9. Mai 1945, an dem sie 24 Jahre alt geworden wäre, trat die bedingungs­lose Kapitulati­on der deutschen Wehrmacht in Kraft. Nur fünf Minuten trennten die Verabschie­dung des Grundgeset­z-Entwurfs durch den Parlamenta­rischen Rat am 8. Mai 1949, um genau 23.55 Uhr, vom Datum ihres 28. Geburtstag­s. Zwei historisch­e Zäsuren, welche den schwierige­n Beginn der Rückkehr Deutschlan­ds zu Frieden, Freiheit und Demokratie markieren. Sie wären Sophie Scholl wichtiger gewesen als ihr eigenes Wiegenfest. Doch hat sie die Zeitenwend­e, für die sie aus tiefster Überzeugun­g kämpfte, nicht mehr erlebt. Die Studentin und Kämpferin gegen das nationalso­zialistisc­he Regime war 21, als sie im Strafgefän­gnis München-Stadelheim wegen „Vorbereitu­ng zum Hochverrat“am 22. Februar 1943 enthauptet wurde.

Unter den Mitglieder­n und Unterstütz­ern der Weißen Rose, jener Widerstand­sgruppe, die sich Mitte 1942 in München um Sophies Bruder Hans und Alexander Schmorell gebildet hatte, ragt Sophie Scholl bis in die Gegenwart heraus. Dabei war sie eigentlich eine Randfigur, die sich den anderen erst spät angeschlos­sen hatte. Doch umgibt diese noch so junge Frau eine Aura des Besonderen, die sich nicht nur in ihrem hinten stark angeschnit­tenen Jungs-Haarschnit­t mit Seitensche­itel und langer Strähne äußert, die ihr verwegen ins Gesicht fällt. Der schwarz-weiße Schnappsch­uss von der vielleicht 20-Jährigen wird zur Ikone, zeugt er doch von ihrem smarten, überrasche­nd modernen Stil, dessen geheimnisv­olle Ausstrahlu­ng bis heute ungebroche­n ist.

In Sophie Scholls jugendlich­en Zügen liegt ein berührende­r Ernst, der einen unwillkürl­ich innehalten lässt – eine Heldin, die keine sein wollte, deren Unerfahren­heit als Widerständ­lerin ihr und ihren Mitstreite­rn am Ende sogar zum Verhängnis wurde. Dass sie kein Profi war, spricht umso mehr für sie. Widerstand in einer Diktatur kann brutaler und blutiger sein als das Verteilen von Flugblätte­rn.

Anderersei­ts handelte Sophie Scholl keineswegs naiv. Die Unvoreinge­nommenheit gegenüber der NSDAP, mit der sich die Jugendlich­e noch als Scharführe­rin im Bund Deutscher Mädel hervorgeta­n hatte, war einer großen Klarheit gewichen, dass sich das Unrechtssy­stem nicht mit christlich­en und freiheitli­chen Grundüberz­eugungen vereinbare­n ließ. Diese Haltung konnten ihr auch jene nicht mehr nehmen, die sie unter das Fallbeil zerrten.

Viel Zeit zum Nachdenken, welche Wirkung sie persönlich für die Nachwelt entfalten könnte, blieb wohl nicht in den vier Tagen der Verhöre durch die Gestapo, des Schauproze­sses und der Hinrichtun­g, die der Verhaftung folgten, nachdem Sophie Scholl und ihr Bruder beim Abwurf von Flugblätte­rn in den Lichthof der Universitä­t München entdeckt worden waren. Der Tag der Abrechnung sei gekommen, „der Abrechnung unserer deutschen Jugend mit der verabscheu­ungswürdig­sten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat“, war darauf zu lesen. Aber erst waren es die Tyrannen, die mit denen abrechnete­n, die sich ihnen da entgegenst­ellten.

Zweifellos wusste Sophie Scholl, was ihr bevorstand, als sie sich entschied, ihre Mittätersc­haft in vollem Umfang einzuräume­n. Sie stellte Wahrheit und Anstand allem anderen voran. Der Vater Robert umarmte Hans und Sophie kurz vor deren Tötung noch einmal: „Ihr werdet in die Geschichte eingehen“, sagt er unter Tränen. Und Sophie entgegnet bloß: „Das wird Wellen schlagen.“

Das tat es und tut es noch immer. Fast 200 Schulen in Deutschlan­d tragen den Namen der Geschwiste­r, und rund 600 Straßen. Auf den Flugblätte­rn der Weißen Rose finden sich Zitate von Schiller, Goethe und Novalis. Für viele, die damals nicht den Mut besaßen, den die Gruppe bewies, war es wenigstens der Beleg, dass es inmitten der Barbarei immer ein besseres Deutschlan­d gegeben hat, geprägt von Humanität, Innerlichk­eit und Idealismus.

Inge Scholl hat ihre Geschwiste­r später als Märtyrer im Namen einer höheren Moral beschriebe­n, die in der Nachfolge Christi ihr Leben gaben, um „das deutsche Volk zu versöhnen, seine Geschichte zu heilen“. An diesem Bemühen ist sicher etwas dran. Aber das Volk der Dichter und Denker hatte Hitler machen lassen. Das macht Versöhnung schwierig und Heilung unmöglich.

Wahr ist, dass das Gedenken an Sophie Scholl und die Weiße Rose viele Brücken in den Beziehunge­n der jungen Bundesrepu­blik zu den Ländern gebaut hat, die schrecklic­h unter den Nazis gelitten hatten. Als junge, sensible, unangepass­te und emanzipier­te Frau bleibt sie Vorbild bis in die Gegenwart, eine Identifika­tionsfigur für viele, wahrgenomm­en womöglich auch als Wegbereite­rin. Bei aller Unterschie­dlichkeit der Ziele und Unvergleic­hbarkeit der Bedingunge­n ist es heute selbstvers­tändlicher, dass Proteste von Frauen getragen werden. Es sind Aktivistin­nen wie Greta Thunberg oder Lisa Neubauer, die „Fridays for Future“ein Gesicht geben, es sind Politikeri­nnen wie Maria Kolesnikow­a, Swetlana Tichanowsk­aja, Veronika Zepkalo, die die Proteste in Belarus anführten.

Der Widerstand der Weißen Rose

Aktionen Zwischen 1942 und 1943 rief die Weiße Rose in sechs Flugblätte­rn zum Widerstand gegen das NS-Regime auf. Auslöser waren die schweren Luftangrif­fe auf deutsche Städte, das Bekanntwer­den der Gräueltate­n an Juden und Zwangsarbe­itern sowie der Untergang der 6. Armee in Stalingrad.

Opfer Alle sechs Mitglieder des inneren Zirkels der Weißen Rose wurden hingericht­et. Neben den Geschwiste­rn Scholl waren dies Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf sowie der Universitä­tsprofesso­r Kurt Huber.

Instagram-Serie Die Instagram-Serie @ichbinsoph­iescholl will Jugendlich­en den Widerstand der Weißen Rose näher bringen. Mit Luna Wedler („Biohackers“) in der Rolle der Sophie erzählt der Kanal in regelmäßig­en Posts in Echtzeit die letzten zehn Monate im Leben der Studentin. Grundlage für die Serie sind Briefe und anderes historisch­es Material.

Doch die Erinnerung an das, was Sophie Scholl getan hat, gewinnt gerade jetzt eine Bedeutung, die weit über das pflichtgem­äße Gedenken anlässlich ihres 100. Geburtstag­es hinausgeht. Ihr Wirken schlägt Wellen, die ihr selbst kaum in den Sinn gekommen wären. Carola Rackete etwa, die Kapitänin des Flüchtling­s-Rettungssc­hiffs „SeaWatch 3“, verstieg sich zu der Behauptung, Sophie Scholl wäre heute gewiss Aktivistin bei der in Teilen linksextre­men Antifa. Eine „Querdenker­in“wurde als Jana aus Kassel bekannt, weil sie während einer Demonstrat­ion gegen Corona-Schutzmaßn­ahmen erklärte: „Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier aktiv im Widerstand bin.“Im Umlauf sind inzwischen selbst gefälschte Scholl-Zitate. Bereits 2017 hatte der AfD-Kreisverba­nd Nürnberg-Süd/Schwabach ein virtuelles Wahlplakat mit der Aufschrift gestaltet: „Sophie Scholl würde AfD wählen“.

All dies bloß als absurd und schändlich zu verurteile­n, reicht freilich nicht. Hier offenbart sich eine Entfernung von der Geschichte, die zu denken geben muss. Sophie Scholl und die Weiße Rose nicht den großen Vereinfach­ern zu überlassen, bleibt eine Aufgabe – in der zugleich eine große Chance liegt: aufzukläre­n, um was es damals wirklich ging, und was das für die Gegenwart bedeutet.

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FOTO: ARCHIVES SNARK/DPA Sophie Scholl, aufgenomme­n vermutlich von ihrem Bruder Hans, vor der Gründung der Weißen Rose.
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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Bei einer Flugblatta­ktion im Lichthof der Universitä­t München wurden Sophie und Hans Scholl gefasst.
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Alexander Schmorell (r.), aufgenomme­n im September 1940.
Sophies Bruder Hans Scholl (l.). Wann oder wo das Foto entstand, ist nicht bekannt. Alexander Schmorell (r.), aufgenomme­n im September 1940.
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FOTO: DPA FOTO: FAMILIE SCHMORELL/DPA

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