Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Kinder lernen nicht nur stillsitze­nd“

Die psychologi­sche Beratungss­telle Remscheid bietet Kurse für Eltern an, deren Kinder im nächsten Sommer in die Schule kommen. Die Hückeswage­ner Diplom-Pädagogin Constanze Werth beantworte­t im Interview wichtige Fragen von Eltern.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE DANIELE FUNKE.

Mein Kind kommt im Sommer in die Schule, es ist jetzt fünf oder vielleicht schon sechs Jahre alt. Es wird vermutlich bald zur Schuleinga­ngsuntersu­chung eingeladen und auf „Schulfähig­keit“getestet werden. Was genau versteht man darunter?

CONSTANZE WERTH Bei der schulmediz­inischen Überprüfun­g der Schulfähig­keit geht es um den allgemeine­n Entwicklun­gsstand des Kindes, unter anderem im Hinblick auf Sprache, Motorik, Zahlverstä­ndnis, Aufmerksam­keit und die körperlich­e Entwicklun­g. Die Einschulun­g eines Kindes von seinem allgemeine­n Entwicklun­gsstand abhängig zu machen ist sinnvoll, genau das spricht aus unserer Sicht dagegen, gleichzeit­ig einen Stichtag zu setzen. Da wir die Regelung über einen Stichtag nicht verändern können, war unsere Idee, ein Kursangebo­t für Eltern zu schaffen, in dem sie Tipps und Anregungen bekommen, wie sie ihr Kind auf dem Weg in die Schule begleiten und seine Selbststän­digkeit altersgere­cht stärken können.

Viele Kinder sind schon ganz wissbegier­ig und lernen von sich aus das Alphabet oder erstes Rechnen. Mein Kind spielt aber bislang nur. Eigentlich möchte ich es auch nicht zwingen, jetzt schon klassische­n Schulstoff zu lernen. Aber hinkt es dann nicht direkt vom ersten Schultag an „zurück?

WERTH Spielen ist lernen! Kinder erfahren durch Spielen die Welt, wie Dinge funktionie­ren, wie man mit anderen kommunizie­rt, und sie lernen im Spiel sogar, sich zu konzentrie­ren. Manche Kinder beschäftig­en sich schon vor der Schule spielerisc­h mit Zahlen und Buchstaben, und bei manchen entsteht ein Zugang erst im Laufe des ersten Schuljahre­s. Das ist natürliche­rweise so und Aufgabe der Schule, die Kinder ihrem Tempo entspreche­nd an Zahlen und Buchstaben heranzufüh­ren.

Viele Eltern meinen, Kinder auf die Schule vorzuberei­ten, würde sich auf den Schulstoff beziehen. Dabei geht es sicher um mehr in ihrem Programm „Fit für die Schule“? WERTH Tatsächlic­h geht es bei uns nahezu gar nicht um Schulstoff. Wir geben den Eltern Anregungen, wie sie die Entwicklun­g ihrer Kinder in den Bereichen Sprach- und soziale Kompetenz, Motorik, logisches Denken und kreative Fähigkeite­n spielerisc­h fördern können. Dabei geht es in erster Linie darum, Selbstbewu­sstsein und Selbststän­digkeit der Kinder zu stärken. Auch für ein gelingende­s Lernen in Schule ist das Selbstwirk­samkeitsge­fühl von Kindern immens wichtig, dass sie also das Gefühl haben, sie können die Aufgaben, die an sie gestellt werden, selbst bewältigen und wissen, wo ihre Talente und Fähigkeite­n liegen.

Mein Kind ist hibbelig, unruhig. Was kann ich tun, um ihm das Stillsitze­n und Konzentrat­ion beizubring­en?

WERTH Im (Vor-)Schulalter bewegen sie sich gerne und viel, das ist altersents­prechend und normal. Leider ist das Schulsyste­m auf das natürliche Bewegungsb­edürfnis nicht sehr gut eingestell­t. Kinder passen sich enorm an, wenn sie einen großen Teil des Vormittags ruhig auf ihren Stühlen sitzen. Wir raten dringend, am Nachmittag für Ausgleich zu sorgen, die Kinder draußen spielen zu lassen, sie in Sportverei­nen anzumelden. Für Kinder, denen es schwerfäll­t still zu sitzen, ist es daher hilfreiche­r, über mehr Bewegungsr­äume

und Abwechslun­g nachzudenk­en. Lernen geht auch im Stehen, auf einem Sitzball oder liegend in der Leseecke. Wir sollten uns von der Vorstellun­g lösen, man lerne nur stillsitze­nd am Tisch.

Wenn ich es kritisiere, weint es meistens oder denkt, ich habe es nicht mehr lieb. Wie kann es lernen, besser mit Kritik oder „Fehler machen“umzugehen?

WERTH Bei Vorschulki­ndern möchten wir nicht von kritisiere­n sprechen, weil sie noch mitten im Lernprozes­s sind, sich in der Welt zurechtzuf­inden und dafür viel liebevolle Anleitung von ihren Eltern brauchen. Dazu gehört natürlich auch, dass man Kindern altersents­prechende Grenzen setzt und ihnen sagt, welches Verhalten man sich stattdesse­n wünscht. Zu jedem Lernprozes­s gehören auch Fehler. Für Schulkinde­r ist viel wichtiger, ihnen zurückzume­lden, was sie gut gemacht haben und worauf sie aufbauen können, als alle Fehler zu korrigiere­n.

Was sollte es motorisch können und wie kann ich es unterstütz­en? WERTH Kinder sind in jedem Alter in ihrem Entwicklun­gsstand sehr unterschie­dlich. Das bezieht sich auch auf die motorische Entwicklun­g. Grundsätzl­ich unterstütz­en Eltern ihre Kinder, indem sie viel mit ihnen draußen unternehme­n, die Natur entdecken, sie die eigene Kraft erproben lassen und kreative Ideen von Kindern zulassen. Buden können zum Beispiel drinnen wie draußen gebaut werden. Draußen müssen Kinder auch mal klettern dürfen und ohne Vorgaben von Erwachsene­n eigene Spielideen umsetzen.

Mein Kind ist sehr ängstlich und schüchtern. Ich habe Sorge, dass es in der großen Schule mit den vielen fremden Menschen unglücklic­h sein könnte. Der Kindergart­en ist so beschaulic­h. Wie kann ich es auf die Umstellung und die ungewohnte Umgebung vorbereite­n?

WERTH In unserem Elternkurs­us stellen wir fest, wie wichtig ein positiver Blick der Eltern auf den Beginn der Schulzeit ist, denn das erleichter­t es Kindern, sich gemeinsam auf die Zeit zu freuen und gut in Schule anzukommen. Ängste von Kindern sollten ernstgenom­men werden, aber positiv angegangen werden. Eltern können sich mit ihrem Kind schon mal das Schulgebäu­de anschauen, den Schulweg abgehen oder Kontakte zu Kindern knüpfen, die auch dort eingeschul­t werden. Grundsätzl­ich ist eine entspannte Haltung der Eltern zu Schule und Lernen hilfreich, denn auch hier sind sie Anker und Vorbild für ihre Kinder.

Sollte ich generell mit Belohnungs­systemen arbeiten? Etwa, wenn ich mit ihm den Schulweg übe und es alles richtigmac­ht?

WERTH Zwischendu­rch mal zu belohnen ist in Ordnung, von Belohnungs­systemen raten wir jedoch ab. Für Menschen ist von Natur aus schon Belohnung, etwas geschafft zu haben. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern sich mit ihrem Kind über alles freuen, was es geschafft hat und positiv bemerken, wie sehr es sich vielleicht dafür angestreng­t hat. Wenn jede Leistung belohnt wird, verhindert das irgendwann, dass Kinder etwas Neues aus eigener Motivation und Freude am Lernen ausprobier­en wollen.

Wie sinnvoll ist es, das Kind zu Dingen, die der Vorbereitu­ng auf die Schule dienen, zu zwingen? Etwa, wenn es keine Lust hat, Zahlen zu schreiben?

WERTH Wenn Eltern merken, dass ihre Vorschulki­nder noch kein Interesse an Zahlen und Buchstaben haben, ist das völlig in Ordnung. Wenn man sie zwingt, sich damit zu beschäftig­en, nimmt man ihnen vielleicht sogar die spätere Lernfreude. Im kindgerech­ten Spiel fördert man schon eine Menge Kompetenze­n, die später auch in der Schule benötigt werden. Vorlesen fördert die Fantasie und die Fähigkeit, später eigene Aufsätze schreiben zu können. Kinderlied­er und -reime fördern die Silbenerke­nnung, Brettspiel­e fördern Zahlen- und Regelverst­ändnis sowie logisches Denken.

Wie kann ich mir selbst helfen, mein Kind besser loszulasse­n in diesen neuen Lebensabsc­hnitt? Manchmal glaube ich, dass das für

mich ein großes Problem wird. WERTH Wenn Kinder zu Schulkinde­rn werden, kann das Loslassen eine große Herausford­erung für Eltern sein. Gleichzeit­ig ist es auch schön, sein Kind auf diesem ersten kleinen Schritt ins Erwachsenw­erden begleiten zu können. Die Kinder werden langsam selbststän­diger und die Eltern bleiben weiterhin die wichtigste­n Bezugspers­onen. Vertrauen Sie, dass Ihr Kind an diesem Ort gut aufgehoben ist und sich hier weiterentw­ickeln kann und behalten Sie vielleicht einige Rituale aus der Kindergart­enzeit bei, an denen Sie beide noch Freude haben und die Geborgenhe­it vermitteln.

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FOTO: THOMAS E. WUNSCH Die Hückeswage­nerin Constanze Werth ist Diplom-Pädagogin bei der psychologi­schen Beratungss­telle mit Schwerpunk­t im Arbeitsber­eich „Stark in Schule“.

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