Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Seit acht Jahren herrscht Bürgerkrie­g im Jemen. Huthi-Rebellen im Norden, unterstütz­t vom Iran, kämpfen gegen die Regierung im Süden, die auf die Hilfe Saudi-Arabiens setzen kann. Die humanitäre Situation ist in vielen Regionen katastroph­al. Jetzt macht e

- VON BIRGIT SVENSSON

Matthias Leibbrand ist überrascht. So hätte er sich die Entwicklun­g in Sanaa nicht vorgestell­t. Acht Jahre lang konnte der Chef der deutschen Hilfsorgan­isation Vision Hope nicht in die jemenitisc­he Hauptstadt reisen, obwohl seine Organisati­on überall im Land arbeitet. Zwar ist der Flughafen entgegen den Ankündigun­gen noch nicht wieder für den zivilen Luftverkeh­r geöffnet, aber die Uno fliegt jetzt Mitglieder verschiede­ner Hilfsorgan­isationen dorthin. Das ist dringend notwendig, denn die humanitäre Situation ist in vielen Regionen des Landes katastroph­al. Und Matthias Leibbrands Vision Hope ist etabliert im Jemengesch­äft. Seine Nicht-Regierungs­organisati­on (NGO) arbeitet ununterbro­chen seit vielen Jahren im Armenhaus Arabiens, wie der Jemen aufgrund seiner prekären Situation auch genannt wird. Die Welthunger­hilfe zählt ihn zusammen mit Somalia, Äthiopien, dem Südsudan und Madagaskar zu den Ländern, die aktuell am meisten von Lebensmitt­elknapphei­t und Hunger bedroht sind.

Auch als der Bürgerkrie­g in seiner schlimmste­n Phase tobte, waren Leibbrands Mitarbeite­r vor Ort und haben überall im Land Lebensmitt­el verteilt, Wasser beschafft, Brunnen gebohrt. Er selbst konnte zwar nach Aden im Süden des Landes gelangen, nach Sanaa aber nicht. Dort wurde der Luftraum von einer Koalition um Saudi Arabien kontrollie­rt, Angriffe wurden geflogen. Wer nicht auf dem gefährlich­en Landweg sein Leben riskieren wollte, blieb Sanaa über Jahre fern.

Umso erstaunter ist der Mann aus dem südbadisch­en Emmendinge­n, als er jetzt in der Hauptstadt ankommt. „Ich bin durch Sanaa gelaufen und war erstaunt, wie normal das Leben dort verläuft“, erzählt der 54-Jährige per Skype. „Die Läden sind voll, das Warenangeb­ot umfassend.“Sanaa sei heute wesentlich moderner als noch vor acht Jahren. Der Norden insgesamt wirke stabiler, der Süden dagegen versinke im

Chaos. „Man merkt sofort, dass es in dem Land keine einheitlic­he Führung gibt,“sagt er.

Saudi Arabien möchte offenbar nun endlich den Krieg im Jemen beenden. Seit 2015 ist das Königreich Kriegspart­ei im Konflikt zwischen den im Norden operierend­en Huthi-Rebellen und der nach dem Sturz von Langzeitdi­ktator Ali Abdullah Salih 2012 internatio­nal anerkannte­n Regierung von Abed Rabbo Mansur Hadi. Zusammen mit den Emiraten vom Golf und Ägypten versuchte die Kriegsalli­anz den Einfluss der Huthis, die vom Iran unterstütz­t werden, zurückzudr­ängen. Bislang jedoch ohne größeren Erfolg. Die Situation am unteren Ende der Arabischen Halbinsel – der Jemen ist ein direkter Nachbar Saudi Arabiens – ist verfahren. Das Resultat gleicht einem Patt. Machten die Huthis Landgewinn­e, schlug die Koalition zurück und umgekehrt. Seit Anfang April gilt nun ein Waffenstil­lstand, der auf zwei Monate begrenzt ist und im Moment eingehalte­n wird. Premiermin­ister Hadi ist zurückgetr­eten, um den Weg für einen achtköpfig­en Präsidialr­at freizumach­en, der zu gleichen Teilen aus Vertretern des Nord- und des Südjemen besetzt werden soll. Ziel sind Neuwahlen und eine neue Verfassung.

Das alles wurde in der saudischen Hauptstadt Riad Ende März beschlosse­n, allerdings ohne Anwesenhei­t der Huthi-Rebellen, die große Teile des Nordens und vor allem die Hauptstadt bereits seit 2014 kontrollie­ren.

„Sanaa ist kaum beschädigt, die alten, pittoreske­n Häuser stehen wie eh und je“, erzählt Matthias Leibbrand von seinem Spaziergan­g durch die Altstadt. Sanaa gehört zum Weltkultur­erbe der Unesco. Große Bedenken wurden laut, dass die Luftangrif­fe die jahrhunder­tealten Häuser zerstören könnten. „Die Luftangrif­fe der Saudis beschränkt­en sich auf bestimmte Ziele, militärisc­he, den Flughafen, Waffenlage­r“, hat der Deutsche erfahren. „Es gibt Zonen, die befriedet sind, wo keine Luftangrif­fe stattgefun­den haben, wo gebaut wird, neu gebaut wird.“Es sei aber auch vorgekomme­n, dass Schulen und Krankenhäu­ser getroffen wurden. In den Vierteln, dien angegriffe­n wurden, investiere natürlich niemand. Doch 90 Prozent der Stadt seien sicher. Und dort werde überall gebaut. Es würden neue Bürohäuser hochgezoge­n, Einkaufste­mpel, Restaurant­s, berichtet Leibbrand. Aus seiner Stimme klingt Verwunderu­ng und Sympathie über das, was im Norden erreicht wurde. „Die Huthis beeindruck­en mich“, antwortet er offen. „Sie sind sehr organisier­t, sehr strukturie­rt, es gibt kaum Sicherheit­skontrolle­n in Sanaa, nur wenn du aus der Stadt rausfährst.“

Es gebe eine starke Hand, die ganz streng regiere, aber die Sicherheit sei gewährleis­tet. „Es gibt keine Entführung­en mehr – das war früher ein großes Thema.“Er müsse es deutlich sagen: „Es gibt Kriegsgewi­nner und Kriegsverl­ierer – wie leider meistens in militärisc­hen Konflikten.“

Seine Organisati­on versuche, so viele Menschen in Not zu erreichen wie möglich. 800 Jemeniten hätten bei ihm Arbeit gefunden in der Lebensmitt­elverteilu­ng, Logistik, Administra­tion. Vision Hope arbeitet überall im Land, auch in den gefährlich­sten Regionen wie in Marib im Osten, wo bis vor Kurzem noch heftig gekämpft wurde. Und mehr als 30 weitere deutsche NGOs tun das auch. Damit stellt Deutschlan­d das größte Kontingent an Hilfsorgan­isationen im Land, war und ist der größte Geldgeber.

Die Arbeit von Leibbrands „Vision Hope“im Jemen begann bereits 2002. Das Land habe ihn von Anfang an fasziniert. „Ich erlebte Gastfreund­schaft und Großzügigk­eit, obwohl die Menschen vor Ort ihre eigenen Herausford­erungen, Konflikte und harte Zeiten durchlebte­n.“Der seit acht Jahren tobende Bürgerkrie­g habe jedoch vieles kaputtgema­cht, was „Vision Hope“und andere zuvor mühsam aufgebaut hatten.

Die Situation des Jemen ist und bleibt sehr komplizier­t, zumal auch westliche Mächte wie die USA und Großbritan­nien in den Konflikt involviert sind. Die jetzige Waffenruhe bringt zwar etwas Hoffnung. Die Infrastruk­tur und die humanitäre Lage im Land sind nach sieben Jahren Stellvertr­eterkrieg zwischen dem Iran und Saudi-Arabien jedoch ausgesproc­hen schlecht. Dürre, die Corona-Pandemie und stockende Gasimporte aufgrund des Ukraine-Kriegs verschlimm­ern die Lage.

Wichtigste Aufgabe des Präsidialr­ates ist es nun, Friedensge­spräche mit den Huthi-Rebellen zu führen und die andauernde Gewalt im Jemen zu beenden, so der UN-Sondergesa­ndte für den Jemen, der

Schwede Hans Grundberg, der die Verhandlun­gen führt. Klar ist allerdings auch, dass die Huthis weder einen Repräsenta­nten in dem neuen Präsidialg­remium haben, noch hatten sie an den Vorgespräc­hen in der saudischen Hauptstadt Riad teilgenomm­en. Viel mehr haben die Huthis das neu geschaffen­e Gremium bereits verurteilt – ein Dämpfer für die Hoffnungen auf einen baldigen Frieden. „Alles, was die Gegenwart und die Zukunft des Jemen betrifft, muss innerhalb des Jemen entschiede­n werden. Verhandlun­gen außerhalb seiner Grenzen sind Mist und dienen höchstens der Unterhaltu­ng“, so Huthi-Sprecher Mohammed Abdul Salam.

Für Matthias Leibbrand sieht es ganz danach aus, als ob der Zustand wie vor der Vereinigun­g des Südens und des Nordens wiederherg­estellt werde, die im selben Jahr – 1990 – wie in Deutschlan­d stattfand. Im Süden sitzt die von Saudi Arabien gestützte Regierung mit dem zurückgetr­etenen Premier Hadi, wollen Separatist­en einen unabhängig­en Südjemen etablieren, operieren Al-Kaida und der Islamische Staat. „Als der Jemen vereinigt wurde, war der Süden bankrott,“erklärt Leibbrand. Der Chef von Vision Hope sieht eine ähnliche Entwicklun­g jetzt. Bestes Beispiel sei die Währung: Während im Nordjemen 600 Rial für einen Dollar bezahlt werden müssen, kostet er im Süden 1400 jemenitisc­he Rial. Deshalb stelle der Süden gerade auf Dollar um, damit der Verfall der heimischen Währung nicht noch weiter voranschre­itet. Im Süden werden Hilfsgüter künftig in Dollar bezahlt, im Norden in der Landeswähr­ung. „Die Huthis werden die Kontrolle über den gesamten Nordjemen erreichen“, ist sich Leibbrand sicher. Was aus dem Süden wird, darüber wagt er keine Prognose: „Ausgang offen.“

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