Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Arbeiten über die Rente hinaus
Immer mehr Menschen in NRW zwischen 65 und 79 Jahren gehen noch einem Beruf nach. Drei von ihnen erklären ihre Beweggründe.
Als Elke Spörkel nach fast 40 Jahren in Pension geht, merkt sie, was ihr so lange gefehlt hat: ein freies Wochenende – als Pfarrerin fast undenkbar. Sie besucht ihre Kinder, ohne sich freinehmen zu müssen. Sie sagt viel häufiger „Nein“, macht nur die Dinge, die ihr Freude bereiten. Verbringt mehr Zeit mit ihrer Frau, liest Graphic Novels, also Comics für Erwachsene, und genießt es, manchmal einfach gar nichts zutun. „Ein ganz neues Gefühl“, sagt die 66-Jährige aus Isselburg am Niederrhein. Aber nur ausruhen – das käme für sie noch nicht infrage. Sie sei noch zu jung, um die Hände in den Schoß zu legen.
Zwei ihrer sieben Kinder brauchen ohnehin noch finanzielle Unterstützung: Der Sohn geht zur Schule, die Tochter studiert Sozialpädagogik. Nicht, dass ihre Pension dafür nicht ausreichen würde. Aber sie sei für verschiedene Jobs angefragt worden, und sie verdiene sich gerne noch etwas dazu, sagt Spörkel – rund 900 Euro, das gibt sie dann an ihre Kinder weiter. Sie unterrichtet Ethik an mehreren Pflegeschulen und vermittelt angehenden Polizeibeamtinnen und -beamten soziale Kompetenzen – wie man eine Todesnachricht übermittelt zum Beispiel. Oder wie man mit einer Person umgeht, die sich selbst umbringen will. Als ausgebildete Therapeutin und Seelsorgerin hilft sie noch immer Menschen in schweren Situationen. Manchmal richtet sie Beerdigungen aus. Mehr als 40 Stunden die Woche wie früher arbeitet sie aber nicht mehr. Es gibt Wochen, die ziemlich voll mit Aufgaben sind – dann ist sie froh, wenn eine ruhigere Woche folgt.
Ein solches Modell wie Spörkel verfolgen offenbar viele Menschen zwischen 65 und 79 Jahren in Nordrhein-Westfalen. 260.000 der rund 2,6 Millionen Menschen in dem Alter
waren 2021 noch berufstätig. Das ist fast jeder Zehnte, wie das Statistische Landesamt IT NRW ermittelt hat. Zum Vergleich: 2005 hatte der Anteil der älteren Erwerbstätigen noch bei 3,5 Prozent gelegen. Männer betrifft das Phänomen 2021 mit rund 13 Prozent allerdings häufiger als Frauen mit 7,5 Prozent.
Ein Drittel (31,5 Prozent) der 65bis 79-Jährigen Berufstätigen ist selbstständig – bei den 15- bis 64Jährigen lag dieser Wert bei 7,3 Prozent. Männer sind hier deutlich häufiger aktiv mit rund 40 Prozent – ihr Anteil ist damit mehr als doppelt so hoch wie der der Frauen mit rund 19 Prozent. 43 Prozent zählen zu den geringfügig Beschäftigten. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen, nur etwa ein Drittel Männer.
Auch Karin Bachmann und Heinz Frantzmann haben sich für einen Minijob entschieden – aber in unterschiedlichem Umfang. Während der 68-jährige Frantzmann aus Düsseldorf mehrmals die Woche für die Diakonie Quartiersarbeit leistet, unterrichtet Bachmann (65) vier Stunden pro Woche geflüchtete Kinder an der St.-Michael-Schule in Geldern. Dort war sie zuvor zehn Jahre lang Schulleiterin, bis sie 2022 in Pension ging. „Ich habe mich sehr gefreut, als die neue Schulleiterin Corinna Engfeld mich gefragt hat“, sagt Bachmann. Es gab nicht genügend Lehrer, die das hätten übernehmen können, und so nutzte sie ihre Fähigkeiten, die sie 2017 in einer Fortbildung zum Unterrichtsfach Deutsch als Fremdsprache erworben hatte. Für Bachmann fühlte es sich auch nicht seltsam an, wieder an ihre alte Arbeitsstelle zurückzukehren. „Es ist einfach toll, und die Kinder freuen sich, wenn ich da bin“, sagt die 65-Jährige. Sie genieße es, weniger Aufgaben zu haben und sich ganz auf den Unterricht konzentrieren zu können. Zwar habe sie ihren Job geliebt, doch sie sehe ja wie gut ihre Nachfolgerin ihn mache und wie reibungslos das Schulleben funktioniere. Sie habe keine Ambitionen, in ihrer alten Funktion wieder mitzumischen, sagt sie.
Heinz Frantzmann geht es ähnlich. Er arbeitete – wie Spörkel – rund 40 Jahre lang als Pfarrer in Düsseldorf, die letzten 18 Jahre für die Diakonie. „Ich habe mit Ende 40 einen Hörsturz gehabt“, sagt der 68-Jährige. Da erkannte er, dass er etwas ändern musste. In der Kirchengemeinde in Eller fiel es ihm schwer, von der Arbeit abzuschalten. Wenn jemand ihn fragte, ob er außerplanmäßig eine Taufe oder eine Hochzeit übernehmen könne, sagte er meistens zu. Ihm blieb kaum eine freie Minute. Also widmete er sich nach dem Hörsturz Management-Aufgaben
und arbeitete nur noch montags bis freitags.
2020 ging er in den Ruhestand und machte erst einmal ein halbes Jahr lang gar nichts. Das hatte er sich fest vorgenommen – und genoss die Zeit sehr, wie er sagt. Doch wie Spörkel hatte auch er irgendwann Lust, wieder unter Menschen zu kommen. Beide berichten, dass sie sich jünger fühlen, wenn sie regelmäßig in Gesellschaft sind. Heute befragt er die älteren Menschen im Düsseldorfer Stadtteil Urdenbach nach ihren Wünschen für eine gute Nachbarschaft, richtet eine Quartierswerkstatt und Vereinstreffen aus, will den Zusammenhalt dort fördern. Häufig fährt er vor Ort mit seinem sogenannten Coffee-Bike herum, bietet den Menschen Kaffee an und kommt mit ihnen ins Gespräch – auch mit denjenigen, die sonst zu gehemmt gewesen wären, auf ein Nachbarschaftsfest zu gehen. „Es fühlt sich gut an, etwas Sinnvolles zutun“, sagt er. Und er wolle nicht lügen: Das Geld, rund 480 Euro, brauche er zwar nicht dringend. Seine Pension sei hoch genug. Er gibt es trotzdem gerne für Kreuzfahrten mit seiner Frau aus – zuletzt ging es auf eine kleine Weltreise von Hamburg nach Südamerika. Heinz Frantzmann und Elke Spörkel möchten gerne noch einige Jahre lang arbeiten, Karin Bachmann kann sich sogar vorstellen, ihre Stunden noch mit einer anderen Stelle aufzustocken.