Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Sängerin und der Krieg
Um den geplanten Auftritt der russischen Sopranistin Anna Netrebko in Wiesbaden ist ein heftiger politischer Streit entstanden.
Als vor mehr als zehn Jahren das Land Hessen und die Stadt Wiesbaden mit Uwe Eric Laufenberg verhandelten, ob er die Intendanz des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden übernehmen würde, war allen Beteiligten klar: Der Mann bringt Haltung mit. Er macht keine Kompromisse. Krawall geht er nicht aus dem Weg, und wenn er ihm dienlich erscheint, heizt er ihn sogar an. Jetzt, zehn Jahre später, erleben sie das hautnah. Doch ist es Krawall oder Haltung?
Politiker in Land und Stadt hatten Laufenberg nahegelegt, Anna Netrebkos geplanten Auftritt bei den kommenden Maifestspielen abzusagen. Der Intendant berief sich auf die Kunstfreiheit und die versöhnende Kraft der Musik und ignorierte die Bitten; die russische Sopranistin werde singen. Angeblich kursiert in Wiesbaden bereits das Programmheft zum Festival, in dem es heißt: „Gegensätze müssen und dürfen hier aufeinandertreffen, sie müssen sich aufladen und explodieren, um sich so wieder zu entspannen.“
Die Vorgeschichte war euphorisch gewesen. Weit vor dem Ukraine-Krieg hatte Laufenberg für die Maifestspiele 2023 die russische Sopranistin verpflichtet, und niemandem in Land und Stadt dürfte dieses Engagement missfallen haben: Netrebko in Wiesbaden, das wird ein Event, jubelten sie.
Dann kam der russische Einmarsch in die Ukraine, und alle prominenten russischen Künstler weltweit wurden sofort mit der vermutlich unbeantwortbaren Frage konfrontiert, auf welcher Seite sie denn stünden. Netrebko oder die Dirigenten Waleri Gergijew und Teodor Currentzis – sie alle sollten sich positionieren. Hierzulande waren etliche empört, dass die Gefragten stumm blieben. Andere riefen einschränkend: Die haben doch Familien in Russland, die bekommen den Zorn Putins sofort und hautnah zu spüren.
Gewiss gab Netrebko nach langer Bedenkzeit ein „Friedensstatement“ab, das manche ausreichend, andere windelweich fanden. Es besaß aber eine Vorgeschichte. Am 1. März 2022 war auf Instagram von ihr zu lesen: „Ich fordere Russland auf, den Krieg jetzt zu beenden, um uns alle zu retten! Wir brauchen Frieden!“Den Beitrag löschte sie noch am selben Tag. Geschah das aus eigenem Antrieb oder nach einer Intervention? Später sagte sie, dass ihre „Gedanken bei den Opfern dieses Krieges und ihren Familien“
seien. Außerdem habe sie Putin 2018 nicht gewählt.
Für eine Künstlerin, die als etwas naiv und managergesteuert gilt, waren diese Einlassungen ein Vabanquespiel. Gewiss hielten sie die Möglichkeit offen, wieder im Westen engagiert zu werden. In Russland gilt sie aktuell als „Staatsfeindin“. Der Politiker und ehemalige Parlamentsabgeordnete Roman Kudjakow sagte: „Ich glaube, dass solchen Menschen auf staatlicher Ebene alle Titel, alle Privilegien entzogen werden sollten, sie sollten aus unserem Gedächtnis gelöscht werden, damit nichts über sie bleibt.“
Beobachter glauben, dass die hessischen Politiker diese komplexe Lage um Netrebko ausblendeten, als sie um deren Ausladung nachsuchten. Für die Politiker ist die Sopranistin ein menschliches Symbol, die Stellvertreterin eines Unrechtsregimes. Der Intendant glaubt hingegen, dass höhere politische Kräfte Einfluss genommen hätten, und verweist auf einen Brief des ukrainischen Kulturministers Oleksandr Tkachenko an Kulturstaatsministerin Claudia Roth, in dem dieser angeblich erklärt habe, „dass die ukrainische Seite weder die Zusammenarbeit mit Personen tolerieren werde, die die russische Kultur repräsentierten, noch überhaupt Veranstaltungen, in denen russische Kultur zur Darstellung käme“. Die Existenz dieses Briefes wird im Büro Roth allerdings bestritten.
Unklar ist auch, ob Kiew auch die ursprünglich für Netrebkos Auftritt geplante Mitwirkung eines ukrainischen Orchesters storniert hat. In Wiesbaden, heißt es, sei noch keine Absage eingetroffen; möglicherweise hofft die Ukraine weiterhin auf Netrebkos Ausladung. Die ukrainische Sanktionsliste, auf die Netrebko neben anderen russischen Künstlern und Personen des öffentlichen Lebens gesetzt wurde, macht ein gemeinsames Musizieren unmöglich.
Laufenberg sagte dazu: „Wenn ukrainische Politiker es ukrainischen Künstlern untersagen, im Ausland mit russischen Künstlern aufzutreten, dann schaden sie damit dem Kampf um die freie Welt. Von einer ukrainischen Sanktionsliste können wir uns nicht vorschreiben lassen, wen wir zu einem Festival einladen und wen nicht.“Angeheizt hat die Debatte aber auch Laufenbergs Bekenntnis, er widme „die Festspiele allen, die aufgrund ihrer Meinung im Gefängnis säßen, wie etwa der russische Aktivist Alexej Nawalny“. Diese Widmung hätte in Zeiten eines Terrorkriegs anders ausfallen müssen, hieß es.