Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Ein Bandenboss packt aus
Der Weg in die Freiheit führt für Asier Rodriguez-Santos über die Literatur. Zum einen, weil Bücher ihm helfen, abzutauchen aus der Realität seiner Zelle und hineinzuschlüpfen in ein anderes Leben. Zum anderen, weil er selbst ein Buch geschrieben hat über seine kriminelle Vergangenheit. „Die AMG-Bande“liest sich flüssig, schürt geschickt Spannung, wirkt eher wie Roman als Tatsachenbericht. Was wohl auch daran liegt, dass der 28-Jährige sich gut zu verkaufen weiß und seine Coups spektakulär, fast hollywoodreif gewesen sind. Rodriguez-Santos hat Millionen erbeutet, Banktransporter leer geräumt, Juweliere überfallen und Geldautomaten geknackt.
Ein Luxusleben geführt.
Bis die Polizei ihn 2018 erwischte. Ein Gericht verurteilte ihn 2020 zu zwölf Jahren Haft. „Das war aber das Beste, was mir passieren konnte“, sagt er. „Ohne diesen Schmerz, diesen Verlust, dieses richtig auf die Kante fallen hätte ich es niemals geschafft, Autor zu werden.“
Das Gespräch mit Rodriguez-Santos findet in der Justizvollzugsanstalt
Willich statt, in einem Besuchsraum für Familien.
In das etwas freundlicher gestaltete Ambiente mit bunten Möbeln fügt sich der Spanier perfekt ein. Er wirkt aufgeräumt, freundlich, zugewandt, lächelt viel, lacht gerne. Niemand würde diesen jungen Mann, der mit Vollbart, Kurzhaarschnitt und Brille eher wie ein Student wirkt, für den Schwerverbrecher halten, der er tatsächlich ist. Oder war, wenn man ihm glaubt. „Ich habe Fehler gemacht, deshalb bin ich kein schlechter Mensch“, sagt er. „Ich bin nur einen falschen Weg gegangen.“Ein Weg, der schon in seiner Kindheit in Santo Domingo in der Dominikanischen Republik begann und dann, mit sechs Jahren, nach Marl führte, wo er in den Dunstkreis arabischer Clans geriet. Aus dem Kleinkriminellen wurde ein kühl kalkulierender Gangster, der sich an die großen Sachen heranwagte.
Keine scharfen Waffen, keine Drogen, keine Raubzüge begehen, die nicht mindestens 100.000 Euro einbringen – die AMG-Bande handelte nach festen Regeln. Der Spanier und seine Komplizen benutzten PS-starke Boliden als Fluchtfahrzeuge und fuhren auch privat hochpreisige und schnelle Autos, alle dasselbe Modell, einen Mercedes AMG S 63, was der Bande ihren Namen einbrachte. Bundesweit für Schlagzeilen sorgte ein Coup, bei dem Rodriguez-Santos und seine Gang im Dezember 2017 mit einem falschen Geldtransporter in einem Supermarkt in Gronau rund 1,8 Millionen Euro erbeuten. Ein Fall, den die Fahnder auch für die ZDF-Fernsehsendung „Aktenzeichen XY... ungelöst“nachstellten. Die Bande hatte dafür einen Lieferwagen umlackiert und mit Magnetklebefolie in einen echt aussehenden Geldtransporter verwandelt. Die Männer trugen Uniformen und hatten den Empfang des Geldes sogar quittiert, Mitarbeiter des Supermarktes schöpften keinen Verdacht. Erst als kurze Zeit später der echte Geldtransporter auftauchte, war klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Da waren die Täter jedoch längst verschwunden.
Von den Raubzügen entspannte sich Rodriguez-Santos mit seiner Familie in Dubai, seinem zweiten Zuhause, seinem Sehnsuchtsort, in dem er sich eines Tages zur Ruhe setzen wollte. Aber selbst dort ging er seinen kriminellen Geschäften nach. Akribisch vorbereiten, schnell zuschlagen, lautete das Rezept der Bande. In Dortmund räumten die Gangster einen Geldtransporter leer, während Fahrer und Beifahrer einen Automaten nachfüllten. In Werne gelang es dem Spanier, einen Geldautomaten zu plündern. Dafür hatte er über einen Insider Nachschlüssel angefertigt. Beim Überfall auf eine Schmuckhändlerin in Mönchengladbach lief erstmals etwas nicht wie geplant. Die Bande drohte der völlig verängstigten Frau, sie umzubringen, wenn sie nicht kooperiere. Sie sprühten ihr Pfefferspray ins Gesicht und flüchteten mit einer Beute von rund 300.000 Euro.
Über den Mönchengladbacher Fall will Rodriguez-Santos nicht sprechen, weil er Asier Rodriguez-Santos sitzt in Willich im Gefängnis. Als Kopf der AMG-Bande hat er in NRW Millionen erbeutet und nun ein Buch über seine Taten geschrieben. Mit den RP-Redakteuren Jörg Isringhaus und Christian Schwerdtfeger spricht er über Reue, wie er sich sein Leben vorstellt und wie der Kampf gegen die Clans gewonnen werden kann. sich bei der Juwelierin noch nicht persönlich entschuldigt habe. „Ich weiß, dass diese Person Probleme dadurch hatte“, sagt er, „das war nicht so gewollt und geplant.“Auch JVA-Sozialarbeiterin Angela Pross erzählt, dass Rodriguez-Santos in Gesprächen mit ihr über einen Entschuldigungsbrief nachgedacht habe. Dass er seine Taten durchaus selbstkritisch reflektiere, dass er sich Mühe gebe. Rückfällig werden könne er trotzdem. „Die Gefahr besteht immer“, sagt Pross. „Wir können versuchen, Risikofaktoren zu minimieren, der Rest liegt bei ihm.“
Natürlich weiß Rodriguez-Santos das. Genauso wie er weiß, was man von ihm hören will. Jemand, der solche Überfälle minutiös plant, der denkt wie ein Schachspieler, ist dem Gegner möglicherweise ein paar Züge voraus. Dennoch wirkt er überzeugend. Dass er im Buch alles verrate, beweise ja, dass er nicht mehr weitermachen wolle, argumentiert er. „Welcher Zauberer zeigt den Leuten seine Tricks, wenn er weiter zaubern möchte“, sagt Rodriguez-Santos. Klar ist aber auch, dass er gerade viel Zeit hat, über Sätze nachzudenken, an ihnen zu feilen. Wenn er spricht, hört man auch den Autor, der seine Story abrundet. Etwa, wenn es um seine Werte geht, seinen früheren Hang zum Materiellen. Seine Botschaft im Buch lautet: „Geht nicht denselben Weg. Nutzt eure Talente für das Gute, lasst euch nicht von schnellem Geld verführen.“Das Streben nach Geld sei aber niemandem vorzuwerfen, sagt er im Gespräch. „Die Frage ist, was man dafür tut, was man opfert, was man riskiert. Du siehst Dinge, die willst du haben, der Mensch ist eben schwach. Geld ist eine Verantwortung, egal ob legal oder illegal erworben. Es ist eine Prüfung, wie du damit umgehst.“
Künftig will er diese Prüfung bestehen. Schon seiner Familie zuliebe, wie er sagt. Ihr habe er geschadet, seiner Mutter, seiner Frau und seiner autistischen Tochter. Rodriguez-Santos stockt kurz, als er darüber spricht, weint, fängt sich aber schnell wieder. Alles soll anders werden, er wolle nicht denselben Denkfehler begehen wie andere Straftäter. „Die denken, ich sitze hier meine Zeit ab, mache nichts Besonderes. Und wenn ich rauskomme, dann gucke ich mal, was ich anstelle.“Früher habe er auch so gedacht, aber das sei vorbei. Dank der Bücher. Die hätten ihm Kraft gegeben; beim Lesen habe er die Gefangenschaft nicht mehr gespürt. Rund 100 Werke hat er bereits verschlungen, eines hat es ihm besonders angetan, „Der Graf von Monte Christo“von Alexandre Dumas. „Das hat mich geprägt, weil die Romanfigur Dantès während seiner 14 Jahre im Kerker nie aufgegeben und stattdessen Wissen angesammelt hat“, sagt der Spanier. „Wieder draußen, wurde er zu einem gemachten Mann.“
Dass ein Buch auch fast 200 Jahre nach seiner Entstehung Leser inspirieren kann, sei für ihn eine Erleuchtung gewesen, sagt Rodriguez-Santos. Schnell entstand die Idee, seine eigene Geschichte aufzuschreiben. „Ein Autor braucht nur Stift, Papier und Zeit, und ich hatte alles zur Genüge“, erzählt er. Nur noch nicht den Mut. Sozialarbeiterin Pross ermunterte ihn, es zu probieren, erste Versuche seien vielversprechend gewesen. „Als er dann sagte, dass es um seine Straftaten gehen soll, bin ich aber skeptisch geworden“, sagt sie. Aus Sorge, dass er dafür gefeiert werde, ein gefährlicher Verbrecher gewesen zu sein. Andererseits verarbeiten viele Straftäter ihre Vergehen auf künstlerische Weise. Und Rodriguez-Santos erklärte, seine Verfehlungen klar benennen zu wollen. Dass sich sein Buch trotzdem über weite Strecken liest wie das Drehbuch für einen Gangsterfilm im Clan-Milieu, sei eben so, sagt der Spanier. „Mein ganzes Leben ist wie ein Film, was soll ich machen?“
Dreieinhalb Jahre hat Rodriguez-Santos in seiner Zelle an dem Buch geschrieben, über seinen Anwalt kam der Kontakt zum Verlag zustande. Angst davor, von Komplizen oder anderen Häftlingen als Verräter abgestempelt zu werden, hat er nicht. Das sei ja alles mehr oder weniger bekannt und alle Beteiligten verurteilt, niemand werde belastet. Die meisten Personen wurden verfremdet, auch einige Handlungsstränge seien fiktiver Natur, um sich und andere nicht zu belasten. Er werde von allen für sein Buch respektiert, selbst von den JVA-Bediensteten. Auch außerhalb der Gefängnismauern habe er nichts zu befürchten. „Ich bin ja kein Kind von Traurigkeit“, sagt Rodriguez-Santos und lächelt, vielleicht auch über den Interpretationsspielraum, den der Satz bietet. „Die draußen wissen das. Es gibt Leute darunter, die sind gerade; andere stürzen sich gerne auf Beute. Aber wenn du denen zeigst, dass du keine Beute bist, passiert auch nichts. Man muss strategisch sein, man muss politisch sein, man muss versuchen, mit jedem korrekt zu sein, dann wirst du auch ernst genommen.“
Das Lesen sieht er auch als Ausweg für andere, die drohen, auf die schiefe Bahn zu geraten oder schon geraten sind. Hätte er früher gelesen, wäre er vielleicht in eine andere Richtung gelaufen, sagt er. Durch das Lesen lerne man vom Leben anderer, von deren Konflikten und wie sie sich lösen lassen, deshalb müsse man schon den Kindern und Jugendlichen zurufen: Fangt an zu lesen! „Es hilft dabei, besser zu sprechen, besser zu denken, der Horizont erweitert sich“, sagt er. Es gelte, gefährdeten Jugendlichen eine Alternative zu bieten zu Tiktok und GangstaRap und ihnen Perspektiven aufzuzeigen, Anreize zu bieten, einen anderen Weg einzuschlagen. „Man sollte sich auf die nächste Generation fokussieren“, sagt Rodriguez-Santos, „bei vielen Älteren ist der Drops schon gelutscht.“Aber auch bei denen könne man ansetzen, wenn man ihnen die Chance gebe, etwas zu erreichen. Ehrliche Arbeit werde jedoch hierzulande zu wenig gewürdigt. Wenn man mit Chillen mehr Geld verdienen könne als ein Busfahrer, dann passe das nicht, sagt der Spanier.
Generell sei es für die Clans in NRW schwieriger geworden, ihren Geschäften nachzugehen, seit Innenminister Herbert Reul sich den Kampf gegen die Organisierte Kriminalität auf die Fahne geschrieben habe. Die Polizei habe für ihre Aktionen mehr Rückendeckung bekommen; es seien mehr Observationen genehmigt und mehr Durchsuchungsbefehle vollstreckt worden. „Aber wenn nach einer Razzia wieder Ruhe einkehrt, geht das Geschäft weiter“, sagt Rodriguez-Santos, „weil die meisten ClanMitglieder nichts anderes können, weil sie nicht lernfähig sind.“Auch er selbst wurde am Ende zu übermütig, zu fahrlässig, fühlte sich zu sicher. Hatte nichts gelernt aus seinen früheren Strafen. Wenn er nicht erwischt worden wäre, hätte er dann wohl weitergemacht? „Ich denke schon“, sagt er. „Ich konnte ja auch nichts anderes.“
Rodriguez-Santos hat seine Abschiebung nach Spanien beantragt, hofft, dort vielleicht schneller in den offenen Vollzug zu kommen. Außerdem kenne ihn dort niemand. Ob sich das Buch und der Umstand, dass er seinen Taten reflektiert und bereut, haftmindernd auswirken, weiß der 28-Jährige nicht. Natürlich hofft er darauf, lebe aber von Tag zu Tag. Acht Jahre Haft stehen noch aus. Immerhin hat er jetzt Pläne, hochgesteckte zwar, aber legale. Rodriguez-Santos will weiter Bücher schreiben, diesmal die Geschichten von anderen Gaunern erzählen, aber auch als Coach Menschen motivieren, erfolgreich zu sein, ohne ins Kriminelle abzurutschen. Dass das schwierig wird, weiß er selbst. „Sicher sind das alles große Reden, die ich hier schwinge“, sagt er. Aber der Wille sei da. Angela Pross drückt ihm die Daumen. „Ich hoffe, dass er fürs nächste Buch keine Straftaten begehen muss, dass er es schafft, sich eine andere Form von Anerkennung in sein Leben zu holen“, sagt die Sozialarbeiterin. Sie zuckt mit den Schultern. Weil die Wahrheit simpel ist. „Im Endeffekt“, sagt sie, „hat er es selber in der Hand.“