Kandahar Journals
OT: Kandahar Journals L: CA, US, AF J: 2015 V: Studio Hamburg Enterprises B: MPEG-4, 1.77 : 1 T: DD 2.0 Stereo R: Devin Gallagher, Louie Palu D: Louie Palu LZ: 76 min FSK: 16 P: 20 Euro W-Cover: ja
Das wohl bekannteste Zitat aus der Dokumentation „Kandahar Journals“ist der Satz „Je mehr ich sehe, desto weniger verstehe ich“: Was wissen wir eigentlich über das Leben eines Fotojournalisten, der in Kriegsgebieten arbeitet? Uns ist natürlich klar, dass es gefährlich ist, aber eine wirkliche Vorstellung vom Alltag in diesem Job haben wohl die wenigsten von uns. Der kanadische Fotojournalist Louie Palu lässt genau diesen Blick hinter die Kulissen, in die Gedankenwelt zu. Er arbeitete von 2006-2010 in Kandahar in Afghanistan, wo er im Laufe der Jahre viele Kriegspatrouillen kanadischer, amerikanischer und afghanischer Soldaten begleitete. Das Material ist sehr unterschiedlich, von Videoaufnahmen aus Kandahar, zu Fotos und Videos von Louie Palu selbst, und auch vorgelesene Ausschnitte aus Palus Tagebüchern bilden insgesamt das Mosaik, das versucht zu zeigen wie es für ihn war und wie es ihn beeinflusst hat. Palu, der aus einer italienischen Familie in Kanada stammt, wollte verstehen, was seine Großeltern verstanden haben, als sie den Krieg überlebt haben. Also ging er nach Afghanistan. Kandahar ist ein strategisch wichtiger Punkt, denn durch diese Gegend führt der Weg nach Kabul, vorbei am Gebirge. Lange sind es eher ruhige Bilder, die er zeigt. Zwischendurch erklärt und zeichnet Palu auf, wo Kandahar liegt und warum die Stadt umkämpft ist. Oder man sieht ihn beim Versuch, wieder Zuhause anzukommen. Aber genau wie für den Louie aus den Archivaufnahmen kommt auch für den Zuschauer der Krieg näher.
Unterschiedliche Welten
„Kandahar Journals“ist ein Film voller Kontraste. Da ist die Ödnis der Soldaten, die stundenlang durch die Hitze laufen, auf der Suche nach dem Taliban, der hier sein Machtzentrum hat. Die raue Schönheit des Landes, festgehalten in schwarzweiß wie eine surreale Mondlandschaft. Die Erkenntnis, wie unübersichtlich echte Kämpfe aussehen und klingen im Vergleich zu den choreographierten Szenen, die wir aus Spielfilmen kennen. Oder auch die Versuche Palus, über seine Erlebnisse und den Charakter seiner Arbeit zu reflektieren, und die Soldaten mit denen er spricht. Und dann ist da natürlich der Tod. Ungeschönt, nüchtern und nah. Irgendwann liest Palu aus einem seiner Tagebücher den Satz „Ich bin hundert Jahre alt“. Dem Zuschauer wird klar, was er eigentlich längst wusste: Hinter den Bildern stehen echte Menschen, die das Gesehene verarbeiten müssen, die etliche Erfahrungen machen, die das Bild nicht zeigt. Es verwundert also auch nicht weiter, dass Palu das Bedürfnis hatte, aus dem Erlebten einen Film zu machen.
Der preisgekrönte Independent-Film wurde 2014 über ein Kickstarter-Crowdfunding, sowie aus eigener Tasche und auch mit ehrenamtlicher Arbeit finanziert und 2015 produziert. „Kandahar Journals“ist in englischer Sprache, mit deutschen Untertiteln. Das Bonusmaterial, ein Interview mit Palu, ist leider nicht untertitelt, aber inhaltlich durchaus interessant. Nicht nur aus sprachlichen Gründen, sondern auch wegen der ruhigen, aber sehr eindringlichen, beklemmenden Stimmung, die insbesondere durch die Musik verstärkt wird, fordert „Kandahar Journals“dem Zuschauer einiges an Konzentration ab. Technisch wirkt es aufgrund der Drehbedingungen fast unfair, diesen Film nach üblichen Maßstäben zu bewerten. Natürlich weisen Bild und Ton Schwächen auf, die in der Natur der Sache liegen. Dann sind da noch Palus großartige, brutal ehrliche Bilder, die keine weitere Dramatisierung brauchen um zu wirken. Er fragt sich, ob seine fünf Jahre Arbeit vor Ort eigentlich einen Wert haben. Auch wenn man, ähnlich wie er, immer weniger versteht je mehr man sieht, ist die Antwort darauf ein ganz klares und eindringliches ja.