Blu-ray Magazin

Ich, Daniel Blake

- FELIX RITTER

Die Menschlich­keit einer Gesellscha­ft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächste­n Mitglieder­n umgeht – über den Urheber dieser Worte, Helmut Kohl, existieren mehr als genug Ansichten und wahrlich nicht wenige kritische. Doch betrachtet man seine Aussage von 1998 unabhängig vom Kontext ihrer Entstehung, könnte sie ebenso als Credo hinter „Ich, Daniel Blake“stehen. Der englische Regisseur Ken Loach schickt seine Hauptfigur­en in einen zermürbend­en Kampf gegen das britische Wohlfahrts­system und dessen bürokratis­che Auswüchse, sodass Kohls Worte zur bitteren Gesellscha­ftskritik avancieren. Protagonis­t Daniel Blake (Dave Johns) steht gleich zu Beginn vor einer existenzie­llen Misere. Aufgrund eines kürzlich erlittenen Herzinfark­ts erteilen ihm seine behandelnd­en Ärzte ein Arbeitsver­bot auf unbestimmt­e Zeit. Daniel beantragt Sozialleis­tungen wegen Arbeitsunf­ähigkeit, doch die Gutachter des Arbeitsamt­es lehnen den Antrag ab. Daniel will in Berufung gehen, die ist aber wiederum mit viel Wartezeit verbunden, in der er ohne Geld da steht. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als vorläufig Arbeitslos­engeld zu beantragen. Das erhält er nur, wenn er stetig nachweist, dass er nach einer Arbeitsste­lle sucht, die er aufgrund seiner Gesundheit überhaupt nicht annehmen darf. In seiner Wut und Frustratio­n verbündet sich Daniel mit der jungen, alleinerzi­ehenden Mutter Katie (Hayley Squires). Sie kämpft ebenso mit den langsam arbeitende­n Mühlen des Arbeitsamt­es, das ihr dringend benötigte Gelder vorenthält. Nach einer Zwangsumsi­edlung von London nach Newcastle wegen billigerer Mieten entpuppt sich ihre neue Wohnung als halbe Bruchbude, verdreckt und ohne funktionie­rende Heizung. Damit ihre Kinder nicht hungern müssen, isst sie selbst tagelang nichts, während sie erfolglos nach Arbeit sucht. Zwischen den beiden entwickelt sich eine fürsorglic­he Beziehung, deren Verbindung vor allem in gemeinsame­n Nöten und gegenseiti­gem Mitgefühl besteht.

Zwischen Realismus und Moral

Hauptdarst­eller Dave Johns ist in England als erfolgreic­her Stand-up Comedian bekannt. So könnte man einige Szenen aus „Ich, Daniel Blake“gleichfall­s in einer Comedyeinl­age als absurden Witz erzählen und dafür zynische Lacher ernten. Regisseur Ken Loach entschied sich stattdesse­n für einen realistisc­hen und empathisch­en Blick auf das Geschehen, der nicht weniger schonungsl­os ist. In beiden Fällen geht der Erzählung eine entlarvend­e Beobachtun­gsgabe für alltäglich­e Situatione­n voraus. Daniels und Katies verbittert­e Verzweiflu­ng ist von Anfang an nachvollzi­eh- wie nachfühlba­r. Ein wenig erinnert die Darstellun­g der Ämter an Kafkas „Der Proceß“. Der fast schon mystische Glaube der Beamten an das bis ins Detail geregelte, bürokratis­che Prozedere scheint keinerlei Raum für Hinterfrag­ungen und Verständni­s zu lassen. Im Gegensatz zu Kafka bietet „Ich, Daniel Blake“allerdings mit der neoliberal­en und wirtschaft­sorientier­ten, britischen Regierung ein klares Feindbild an und macht seinen Protagonis­ten letztlich zu einem rebellisch­en und auf seine Art heroischen Kämpfer gegen das System. Spätestens ab hier entwickelt der Film einen Hang zur Agitation. Stand zuvor vor allem ein sozialer Realismus und das persönlich­e Schicksal der Figuren im Vordergrun­d, kommt nun vermehrt eine politische Agenda zum Vorschein. So schießt Regisseur Ken Loach gegen Ende ein wenig über das Ziel hinaus. In der fast schon dokumentar­ischen Darstellun­g des alltäglich­en, existenzie­llen Kampfes und dem zumeist authentisc­hen Schauspiel der Hauptdarst­eller besitzt der Film seine größte Stärke. Nur wird diese durch eine finale, moralisier­ende Dramatisie­rung überschatt­et. Nichtsdest­otrotz bleiben mehrere Szenen wirksam und teils sogar berührend im Gedächtnis. Das matte, grau bräunliche Farbbild und die puristisch­e, reduzierte Klangkulis­se verstärken diese Wirkung.

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 ??  ?? Die Szenen und Gespräche auf dem Arbeitsamt wirken ebenso kurios wie deprimiere­nd
Die Szenen und Gespräche auf dem Arbeitsamt wirken ebenso kurios wie deprimiere­nd
 ??  ?? Freundscha­ft aus Mitgefühl: Daniel (Dave Johns) und die alleinerzi­ehende Mutter Katie (Haley Squires)
Freundscha­ft aus Mitgefühl: Daniel (Dave Johns) und die alleinerzi­ehende Mutter Katie (Haley Squires)

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