JONATHAN
Regisseur Piotr J. Lewandowski, Jahrgang 1975, hat mit seinem Langfilmdebut „Jonathan“ein berührendes und sehr persönliches Stück auf die Leinwand gebracht, für dessen Drehbuch er bereits vor der Verfilmung beim Hessischen Film- und Kino-Preis eine Auszei
Wer sich die Blu-ray von „Jonathan“anschaut, erhält neben dem Hauptfilm auch noch einen kleinen Querschnitt aus den Arbeiten des Jungregisseurs Lewandowski, darunter seine Kurzfilme „Fliegen“, mit Sandra Hüller, die jetzt mit „Tony Erdmann“im Fokus steht, und „Heavy Pregnant“, der mit überraschend hochwertigen CGI-Mitteln und Realdarstellern die skurrile Geschichte eines 27jährigen Mannes erzählt, der nach wie vor im Uterus seiner Mutter wohnt und damit ganz glücklich zu sein scheint. Im 9-minütigen Making-of werden auch noch mal einige Einblicke in Lewandowskis Regie-Arbeit gewährt, sodass der Absolvent der Filmakademie Baden Württemberg dem Zuschauer ein Stück klarer vor Augen steht. Doch eigentlich braucht man all dieses Wissen gar nicht, um sich auf seinen Film „Jonathan“einlassen zu können, denn anders als seine satirischen Kurzfilme oder auch „Die Aufschneider“, ein Spielfilm an dem er als Co-Regisseur mitwirkte, enthält das vorliegende Drama bis auf einige auflockernde Szenen nur wenig Humor. Das sollte man bei einem Film, in dem es um Krebs geht, auch erwarten. Denn der zunehmend schlimmer werdende Hautkrebs von Jonathans (Jannis Niewöhner) Vater Burghardt (André Hennicke) tritt gleich mehrere Entwicklungen los, die sozusagen zur „Mannwerdung“des Protagonisten führen.
Abschied
Am schwersten wiegt der drohende Verlust des noch verbliebenen Elternteils, denn Jonathans Mutter ist bereits vor vielen Jahren verstorben, sodass er keinerlei Erinnerungen an sie hat. Sollte nun auch noch sein Vater dahinscheiden, müsste der Anfang 20Jährige alleine auf dem Bauernhof seiner Tante Martha (Barbara Auer) klarkommen, die zu ihm und seinem Vater reichlich Distanz wahrt. Für Jonathan ist dieser passive Hass völlig unverständlich, da er die Wahrheit nicht aus ihr herausgekitzelt bekommt. Auch sein Vater verweigert ihm jegliche Auskunft über die Vergangenheit, weshalb Jonathan seine erste Identitätskrise bekommt. Sollte sein Vater sterben, bevor er alles über seine Mutter erfährt, werden seine Wurzeln stets verschwommen bleiben und ihre Person wird für immer verschwinden. Veränderungsfaktor Nummer zwei ist wie in so vielen „Coming-Of-Age“-Dramen eine Frau. Anka (Julia Koschitz) taucht wie aus dem Nichts auf, erscheint in Jonathans Zimmer, als würde sie eine Theater-Bühne betreten, und verspricht dem aus einem Tagtraum Erwachenden, sie würde sich um seinen Vater und um ihn kümmern, damit ihre Wunden heilen. Eine Zigarette am Bild-Projektor entzündend entdeckt sie Jonathans Sammlung erotischer Frauen-Fotos. Ihr Amüsement darüber, die traumhafte Qualität des Moments und ihr Diva-ähnlicher Auftritt verleihen der Szene selbst eine gewisse Erotik, sodass der darauf folgende Szenewechsel um so befremdlicher wirkt: Am Folgetag schlendert Jonathan oberkörperfrei durch die Küche und erklärt Anka, die sich als die neue Pflegerin Burghardts entpuppt, wo sie was findet, und dass sie ihn alles fragen darf … Woraufhin sie weiter konzentriert ihrer Arbeit nachgeht und professionell distanziert den offenbar brünstigen Mann am langen Arm verhungern lässt.
Natürlich kommt es dennoch zu sexuell befriedigenderen Begegnungen, was im Film als eine Art Befreiungshandlung bzw. Genuss-Akt und Symbol für die sexuelle Freiheit dargestellt wird.
Pures Leben
Und da wären wir auch schon beim eigentlichen Kernthema des Films, der hauptsächlich vom Lebensende des einen und dem Erwachsenwerdungs-Prozess des anderen zu berichten scheint: Die freie Liebe. Liebe in all ihren Formen wird hier zwischen den unterschiedlichsten Personen und in den unterschiedlichsten Konstellationen gezeigt, sei es nun Geschwisterliebe, Familie, Freundschaft oder die Liebe zwischen zwei zuvor völlig fremden Menschen. Und so nimmt das Drama an Fahrt auf, als sich eines Tages mit Ron (Thomas Sarbacher) Burghardts Kumpel aus früheren Tagen meldet, um seinen Freund noch einmal vor dessen Ableben sehen zu können. Und da Geheimnisse meist nur dazu gut sind, die Zukunft von lebenden Personen zu schützen, offenbaren Burghardt und Ron, dass ihre vermeintliche Freundschaft eigentlich eine Liebesbeziehung ist. Für Jonathan bricht zunächst eine Welt zusammen, da auch das Ableben seiner Mutter mit der verborgenen Homosexualität seines Vaters zu tun haben könnte. Die lang gehegten Lügen über die Ehe fallen ab. Und schließlich sind die drohenden letzten Tage eines Lebens auch immer ein guter Anlass, um reinen Tisch zu machen, weshalb die immer mehr zum Vorschein kommende Wahrheit neben den kurzfristig gesehen schmerzhaften Verletzungen auch einen heilenden Aspekt bei allen Beteiligten haben könnte. Jonathan würde dadurch endlich das identitätsstiftende Bild erhalten, das er für seinen weiteren Lebensweg benötigt. Doch Menschen sind kompliziert und es läuft meist nie so ab, wie man es sich vorstellt. Das Drama ist sehr ruhig erzählt und weist auch einige handwerkliche Schwächen auf, wie etwa der eventuell dem Theater entlehnte, harte Szenenwechsel zwischen dem leidenden Vater und dem lebenshungrigen Sohn. Zugleich ist die Gegenüberstellung der körperlichen Beziehung zwischen Jonathan und Anka mit jener zwischen Burghardt und Ron sehr gut gelungen und zeichnet beide als ehrlich, natürlich und normal aus. Damit ist „Jonathan“kein Unterhaltungsfilm der obersten Stufe, aber auch kein dröges, pessimistisches Dramen-Stück über den Tod. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen und fordert zum intensiven Leben und Lieben auf.