Parasite
Kurz vor der deutschen Blu-ray-veröffentlichung erhält der koreanische Blockbuster „Parasite“die wohl denkbar beste Werbeunterstützug: Vier Oscars in den vielleicht prestigeträchtigsten Kategorien. Was für ein Erfolg! Doch ist er auch verdient?
Der Hauptgewinner der diesjährigen Oscar-verleihung im Test
Thriller/komödie/drama
OT: Gisaengchung L: KR J: 2019 V: Koch Media B: 1.77 : 1 T: DTS-HD MA 5.1 R: Bong Joon-ho D: Song Kang-ho, Lee Sun-kyun, Park So-dam LZ: 132 min FSK: 16 W-cover: k. A.
Es gibt einen Erzählansatz, welchen südkoreanische Filmemacher besser beherrschen als viele ihrer Kollegen aus anderen Ländern. Man könnte ihn, aus Ermangelung eines tradierten Begriffs, die „Leichtigkeit der Schwere“nennen. Gemeint ist die Fähigkeit, schmerzhafte, auch unzugängliche Themen in unterhaltsame Filmkunst zu verwandeln, ohne dabei Verrat am Wesen dieser Themen zu begehen. Die Werke von Park Chan-wook wie „Oldboy“oder „Die Taschendiebin“, maßgeblich mitverantwortlich für das heutige Ansehen des südkoreanischen Kinos in der Welt, stellen beispielhaft die Meisterschaft in dieser Disziplin unter Beweis. Doch Park ist keineswegs der einzige Vertreter seiner Filmindustrie, der hier zu glänzen vermag. Zu Unrecht stand sein Kollege Bong Joon-ho lange Jahre international im Schatten des Festivaldarlings, obwohl schon Frühwerke wie „Barking Dogs Never Bite“und „Memories Of Murder“von einem Ausnahmetalent kündeten. Sein erster englischsprachiger Film, „Snowpiercer“steht exemplarisch für den Erfolg des oben postulierten Konzepts, ein hochbudgetierter Science-fiction-actionfilm mit internationaler Starbesetzung, der auf parabelhafte Weise das Wesen von Klassengesellschaften seziert, spannend, spektakulär, scharfsinnig. Genau dieser Thematik widmet sich nun der oscargekrönte „Parasite“erneut, allerdings in einem intimeren und lokalspezifischeren Rahmen.
Improvisationstalent
Zu Beginn des Filmes wähnt man sich in einer koreanischen Adaption der amerikanischen Tvdramedy-serie „Shameless“. Familie Kim wirkt ganz wie das Pendant zur Familie Gallagher, arbeits- und antriebslos hausen die vier Kims in ihrer herunter gekommenen Kellerwohnung und finanzieren ihr trostloses Leben über Gelegenheitsjobs. Einer dieser Jobs erweist sich als Glücksfall, darf Sohn Ki-woo (Choi Woo-shik) doch in Vertretung seines Freundes als Englischtutor für die reiche Familie Park arbeiten. Und schnell zeigt sich, dass sich hinter der faulen Slacker-fassade Ki-woos ein findiger Geist verbirgt, der sich nach kurzer Zeit für seine neuen Arbeitgeber unverzichtbar macht. Schon bald wird das bisherige Personal der Parks ausgebootet und die eigenen Familienmitglieder werden unter falscher Identität an ihrer Statt angeheuert. Als Familie Park zu einem Kurzurlaub aufbricht, haben die Kims das luxuriöse Anwesen ihrer Brötchengeber ganz für sich alleine und lassen es sich richtig gut gehen. Doch dann stellen sich unerwartete Schwierigkeiten ein, Entdeckungen werden gemacht; Situationen, die dem neuen, sorglosen Leben ein Ende bereiten könnten.
Kafkaesker (Alb-)traum
Selbst in lockere Genre-kategorien lässt sich „Parasite“nicht ohne Probleme einordnen, im Kern
ist der Film jedoch ein schwarzhumoriger Gaunerthriller. Wohlgemerkt im innersten Kern, denn gleichzeitig ist Bong Joon-hos siebte Regiearbeit auch Familiendrama, Sozialstudie und Groteske, doch selbst diese Kategorien decken die Bandbreite nicht vollends ab, die „Parasite“auf die Leinwand wirft. Der Thriller-kern vermag prächtig zu unterhalten. Die unerwartete Raffinesse, mit der sich die Kims bei den Parks einnisten, fordert fast schon Bewunderung ab. Gleichwohl lauert stets ein schleichendes Unwohlsein unter dem Frohsinn und dem neugewonnenen Status, unter anderem hervorgerufen durch anfangs locker eingeworfene, später aber an Häufigkeit zunehmende Horror-typische Kameraeinstellungen und Musikeinsätze. Die Darstellung der Familie Park, ihr toxisches Zusammenleben, ihre vom bourgeoisen Leben verengte und verzerrte Wahrnehmung, ihre Hilflosigkeit echten Problemen gegenüber, macht es dem Publikum zunächst leicht, mit den Kims zu sympathisieren, ihrer Schlitzohrigkeit, ihrem Familiensinn, ihrer neuerwachten Zielstrebigkeit, zumindest während der ersten Hälfte des Filmes. Hier treffen gesellschaftliche Klassen aufeinander, welche in der sozialen Hierarchie soweit auseinander liegen, dass sie sich normalerweise nicht einmal in einem Ausbeuter/ausgebeuteten-verhältnis direkt begegnen würden. So drohen die Oberschichtvertreter schnell zum Opfer ihrer eigenen Ignoranz zu werden, wenn diese Begegnung dann erfolgt.
Geruch & Stein
„Parasite“lässt allerdings auch keinen Lobgesang auf die unterdrückten Schichten erschallen, denn die Kims mögen zwar verblüffend clever darin sein, sich ihre Pfründe zu sichern, das Gewonnene zu bewahren fällt ihnen jedoch schon deutlich schwerer. Allerdings macht es das Schicksal beziehungsweise das Drehbuch ihnen auch nicht einfach, denn die Herausforderungen, die der Film in der zweiten Hälfte seinen Protagonisten entgegen schleudert, sprengen den Rahmen des billigerweise Erwartbaren. Leider entfernt sich „Parasite“in diesem Teil des Filmes vom zuvor etablierten Rahmen, der trotz leicht überzeichneter Figuren und Situationen doch eine große Glaubwürdigkeit und Bodenhaftung aufgebaut hatte. Genau dieser Boden wird Charakteren und Publikum später aber weggezogen, was der unmittelbaren dramatischen Wirkung wichtiger Szenen abträglich ist. Der amüsante, spannende Gaunerstreich der ersten Filmhälfte mutiert in der zweiten zur Groteske, die mit vielen grandiosen, originellen und erschreckenden, ja geradezu kafkaesken Momenten belohnt, aber auch mehr und mehr wie ein drogengeschwängerter Albtraum anmutet. Sowohl die symbolträchtige Bildsprache als auch die inhaltlichen Entwicklungen laden zur Interpretation ein, fordern sogar dazu auf und verheißen einen Schatz an verborgenen Metaebenen unter und über dem Offensichtlichen, doch der Kernfilm, der Thriller verliert hier etwas an Antrieb und Fahrt. Das sollte allerdings niemanden davon abhalten, sich auf diese Seherfahrung einzulassen, und es bleibt zu hoffen, dass die vier frisch gewonnenen Oscars ihren Teil dazu beitragen, die Gemüter für „Parasite“und vielleicht auch für das koreanische Kino insgesamt zu sensibilisieren und zu öffnen.