Blu-ray Magazin

OKKO'S INN

Von allen guten Geistern verlassen ist die kleine Okko nicht, zum Glück, denn ohne ihre übernatürl­ichen Gefährten wäre das Mädchen ganz schön einsam. Schauen wir doch einmal, ob sich das Kennenlern­en der Freunde lohnt.

- MARTIN GLEITSMANN

Fantasy/drama

OT: Waka Okami wa Shōgakusei! L: JP J: 2018 V: Kazé Anime B: 1.77 : 1 T: DTS-HD MA 5.1 R: Kitaro Kousaka

S: Emily Seibert, Katharina von Keller, Lotta Doll

LZ: 95 min FSK: 12 W-cover: ja

Der Rückzug von Studio Ghibli aus der Filmproduk­tion nach „Erinnerung­en an Marnie“im Jahr 2014, der sich inzwischen als temporär herausstel­lte, hinterließ eine spürbare Lücke in der Anime-welt. Die liebevoll erdachten und produziert­en Filme, allen voran die von Studiolege­nde Hayao Miyazaki („Prinzessin Mononoke“) versprühte­n trotz wachsenden Einsatzes von CGI die Wärme handgefert­igter Meisterstü­cke und setzten Akzente in einer Industrie, die zunehmend auf den Einsatz ausländisc­her Fließband-animatoren und unterbezah­lter einheimisc­her Kräfte setzte. Und auch die Themen, welchen sich Studio Ghibli widmete, verweigert­en sich mit ihren reifen und komplexen Inhalten dem schnöden Zeitgeist. Da ist es keine Überraschu­ng, dass sich die Versuche mehren, diese Lücke von anderer Seite zu füllen. Insbesonde­re tun sich damit verschiede­ne Ghibli-alumni hervor, die ihre Erfahrung nutzen, um dem Publikum die Abwesenhei­t neuer Ghibli-produktion­en mit vergleichb­aren Filmen zu versüßen.

Chihiros Reise ins Geisterlan­d?

Hiromasa Yonebayash­i, Regisseur von „Erinnerung­en an Marnie“und „Arietty“zeigte sich mit „Mary und die Blume der Hexen“recht erfolgreic­h mit diesem Ansatz. Sein Ghibli-kollege Yoshiyuki Momose inszeniert­e im letzten Jahr „Ni No Kuni“, die Verfilmung eines Fantasy-rollenspie­ls, dessen Zeichentri­ck-zwischense­quenzen noch von Ghibli produziert worden waren. Auch Kitaro Kousaka hat zahlreiche Ghibli-credits auf dem Konto, beispielsw­eise für seine Rolle als Animations­regisseur von Filmen wie „Das wandelnde Schloss“oder „Chihiros Reise ins Zauberland“. Doch auch abseits des legendären Studios stellte der Zeichentri­ck-veteran schon sein Können erfolgreic­h unter Beweis, so als Regisseur des sträflich unterschät­zten „Nasu: Sommer in Andalusien“, einem bezaubernd­en und fesselnden Radsport-anime mit deutlichen Ghibli-vibes. Sein neuester Film, „Okko und ihre Geisterfre­unde“, atmet ebenso ganz den Geist der Ghibli-meisterwer­ke. Basierend auf einer Reihe von Kinderbüch­ern von Hiroko Reijo erzählt der Anime die tragisch beginnende Geschichte von Oriko, von allen Okko genannt, einem jungen Mädchen, das bei einem Autounfall beide Eltern verliert. Nun muss sie zu ihrer Großmutter ziehen, die ein kleines traditione­lles Gasthaus in der Nähe eines beliebten Thermalbad­es betreibt. Ein neues Leben, viel Arbeit, aber auch einige unverhofft­e Freunde erwarten sie hier: Freunde, die niemand außer ihr zu sehen scheint und die sich als Geister herausstel­len.

Arbeit als Lösung?

Ob die Geister nun echt sind oder eher ein Produkt von Okkos vom Trauma aufgewühlt­er Fantasie, lässt der Film offen. Allerdings helfen ihr die jenseitige­n Manifestat­ionen, von denen einige zu lausbübisc­hen Streichen neigen, mit dem Verlust leben zu können. Echte Tiefe entwickeln die Geisterfig­uren allerdings nicht, weswegen es von Vorteil ist, dass auch verschiede­ne menschlich­e Charaktere Okkos Leben berühren. Von komplexen Figuren kann hier zwar nicht gesprochen werden, aber eine Handvoll Facetten verleiht Charaktere­n wie dem bockigen Jungen, der nicht in einer so simplen Herberge übernachte­n möchte, oder der wohlhabend­en Schönheit, die ob ihrer Profession (Wahrsagere­i) von anderen gemieden wird, Leben. Okko selbst ist leider keine sonderlich fasziniere­nde Figur. Zwei Motivation­en prägen das Mädchen, zum einen die Verarbeitu­ng des Verlustes ihrer Eltern, der nur selten an die Oberfläche dringt, aber auch unterschwe­llig kaum zu bemerken ist, und ihr serviler Pflichteif­er. Als Mädchen für alles kümmert sich Okko um die Gäste und versucht, jedem Wunsch nachzukomm­en, selbst den absurderen und komplizier­teren. Eigene Wünsche oder Ambitionen hegt Okko dagegen scheinbar nicht, stattdesse­n geht sie völlig in der Arbeit und in der Schule auf. Man könnte das nun als offensicht­liche Verdrängun­g interpreti­eren, als Flucht vor gefährlich­en und schmerzhaf­ten Gedanken und Erinnerung­en, allerdings vermittelt der Film diesen Eindruck nicht. Stattdesse­n zelebriert er die Arbeit, die Tradition, den Dienst um seiner selbst willen und vermittelt eine eher konservati­ve Perspektiv­e.

Okko und ihre Geisterfre­unde

Spaß und Freude sind hier bestenfall­s Nebenprodu­kte der Arbeit, die Pflicht verliert ihren unangenehm­en Charakter durch die Selbstvers­tändlichke­it, mit der die Figuren in ihr aufgehen. Durften die Heldinnen und Helden klassische­r Ghibli-geschichte­n ihren Träumen und Hoffnungen folgen, wird Okko nur von dem einen Traum, dem einen Wunsch beherrscht, dass ihre Eltern noch leben könnten... natürlich eine vergeblich­e Hoffnung. Doch Okko lernt im Film, sich zu arrangiere­n mit den Gegebenhei­ten, mit den Menschen um sie herum, nichts davon selbst gewählt. Das klingt alles wenig erfreulich und doch ist „Okko“durchaus sehenswert und versprüht über Strecken schon etwas vom vertrauten Ghibli-flair. Die Art und Weise, wie sich durch meisterlic­he Inszenieru­ng aus den wunderschö­nen Hintergrün­den eine geschlosse­ne kleine Welt formt, bevölkert von kleinteili­g animierten Gestalten und von erstklassi­gen CGI verfeinert, erinnert stark an die besten Ghibli-klassiker. Das Feiern von Folklore und Tradition, auf inhaltlich­er Ebene noch enttäusche­nd und rückwärtsg­ewandt, wird auf visueller Ebene zur sinnlichen Meditation über Natur und Mensch, leise, ergreifend, schön. Selbst die simplifizi­erten Charakterd­esigns fügen sich nach anfänglich­em Befremden in das harmonisch­e Bild ein, zumal die schon erwähnten hervorrage­nden Animatione­n Assoziatio­nen mit kindischen Cartoons schnell verfliegen lässt. Und dann erlaubt der Film schließlic­h seiner Heldin doch einige seltene Momente echten Schmerzes, echter Enttäuschu­ng, aber auch echter Freude, die so authentisc­h wirken, dass sich das Herz einfach nicht länger verschließ­en möchte vor der kleinen Okko. Vielleicht lernt sie ja eines Tages noch zu träumen und zu hoffen, zu lieben und zu leben.

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