Über Grenzen
Es gilt als gesellschaftlich offenes Geheimnis, dass Rentner nie Zeit haben. Vor allem dann nicht, wenn sie 18000 Kilometer auf einem Motorrad Richtung Nirgendwo unterwegs sind. Gut gemeinte Ratschläge verlautbaren nicht selten, man solle sich bei Renteneintritt ein Hobby suchen. Eine Art Demenzprophylaxe also. Wie wäre es da statt des x-ten Fotografiekurses oder einer Kreuzfahrt um die Welt in Lederkluft zu steigen und den Asphalt auf zwei Rädern unsicher zu machen? Frei nach dem Motto, geht nicht, gibt es nicht. Für die 64-jährige Margot Flügel-anhalt kommt diese Herausforderung gerade recht. Bewaffnet mit einem alten Führerschein und der Lizenz zum Zweiraddröhnen darf es ruhig etwas mehr Rauszeit sein. Warum also nicht mal das motorisierte Gefährt satteln und quer durch Europa und Asien düsen? Allein dieses Unterfangen ist schon abenteuerlich. Das Ganze ohne Fahrpraxis – geschenkt! Die rüstige Rentnerin nimmt es mit einer Prise Humor und Pioniergeist. Wer einst in die Welt hinauszog und in Casablanca abbog sowie Berlin unsicher machte, wird auch unbekümmert den Pamir meistern können. Von einem nordhessischen Kleinod über den Pamir Highway – die zweithöchste Fernstraße der Welt – wieder zurück auf dem Rücken einer 125er Reiseenduro – Mehr Abenteuer geht nicht. So ist die Reise auch eine Entdeckungstour, ein Aufbruch in die kontinentübergreifende Zwischenmenschlichkeit. Vorbei an der massiven Wolga rollt die Antirentnerin auf den Pamir zu. Dabei hat sie stets ihre Helmkamera und ihr Handy parat, um ausgewählte Augenblicke einzufangen. Geküsst von der Sonne und sichtlich berührt von den feinen, menschlichen Nuancen steht ihr die Leichtigkeit ins Gesicht geschrieben und lässt pure Lebensfreude erkennen.
Antirentner-dasein
Die sich bietenden Kulissen – ob unendliche Weiten der kirgisischen Steppe oder atemberaubende Bergpanoramen – sind ein Augenschmaus und fordern regelrecht heraus, dem eigenen Ruf des Abenteuers zu folgen. Vor der Überquerung des Pamir-höhenpasses trifft die Fahrnovizin auf ihr Filmteam, welches sie überbrückend begleiten wird. Gerade die unwirklichen Bedingungen in der schwindelerregenden Höhe des zentralasiatischen Massivs fordern nun körperliche Opfer. So bleibt Margot mehrfach im Schneematsch hängen oder stürzt in bedenklicher Anzahl. Im Iran wird sie erneut von einem Filmteam und einem iranischen Guide begleitet. Dieses Reisekapitel wird nun explizit beleuchtet und kulturpolitische Konflikte in den Fokus gerückt. Was als dokumentarisches Roadmovie beginnt, wird im Iran teilweise zu einem politischen Diskurs. Obgleich Margots Gedanken und ihr Bestreben nach Freiheit für die iranische Bevölkerung nachvollziehbar und durchaus berechtig sind, wirken sie hier bisweilen deplatziert. Gerade wenn man bedenkt, dass einige Länder wie Polen, die Ukraine und Bulgarien und einige Abschnitte im zentralasiatischen Teil der Reise beinahe gar nicht erwähnt oder nur rudimentär präsentiert sind. Womöglich verschafft dann, das zum „Spiegel-bestseller“avancierte, Reisedokumentationsbuch Abhilfe und vertiefende Einblicke? Technisch wirken die selbstgemachten Aufnahmen überraschend hochwertig und bilden eine farbintensive Diashow. Die Mitschnitte des Filmteams garnieren die gute optische Qualität. Gerade die Drohnenbilder bieten interessante Perspektiven und spektakuläre Motive. Allerdings sind Margots eigene Aufnahmen bisweilen sehr sporadisch gewählt, sodass einige Abschnitte ihrer Tour gefühlt übersprungen werden. So wäre es schön, mehr über ihre Übernachtungen und Verpflegungen zu erfahren. Der Ton ist gut abgemischt und die Dialoge klar und verständlich. Anfangs verwirren die Untertitel samt eingeblendeter Sprachen, etwa wenn pamirtadschikisch gesprochen wird. Allerdings erschließt sich der funktionale Kniff, die sprachliche Vielseitigkeit der bereisten Länder hervorzuheben. So sprechen die Leute vielerorts scheinbar eine ähnliche Sprache. Die Sprache des Helfens und Füreinanderdaseins, losgelöst von Ethnien und sozialen Herkünften. Margot Flügel-anhalts Reisedokumentation ist ein bildgewaltiges Plädoyer für kulturübergreifende Begegnungen und ein Aufruf, selbst dem Freiheitsgeist zu frönen. Die sympathische Rentnerin demonstriert eindrucksvoll, dass es nie zu spät für ein Abenteuer ist. Und dass Rentner tatsächlich Gründe finden, keine Zeit zu haben. Warum also nicht selbst durch 18 Länder touren, um zu sehen, ob die Welt in Ordnung ist?