| Test des Monats: Die Magie der Träume
Wenn ein Bestsellerautor wie Neil Gaiman die zwei Grimmschen Märchen „Schneewittchen“und „Dornröschen“in seinem gülden gefärbten, reich illustrierten Kinderbuch „The Sleeper And The Spindle“(auf deutsch bei Knesebeck als „Der Fluch der Spindel“erhältlich) vereinen kann, dann wird dies doch auch mit anderen bekannten Figuren möglich sein, oder? Wann immer man sich als Autor einem solchen Gedanken hingibt, muss man sich aber dessen bewusst sein, dass diese Kombination beziehungsweise der neue Blickwinkel, den man damit auf die beiden klassischen Werke wirft, auch eine organische, alleinstehende Geschichte ergeben muss, deren größtes Vergnügen darin bestehen sollte, die darin enthaltenen Geheimnisse mittels des Wissens über die Originale zu entschlüsseln. Bestenfalls gelangt das Publikum dadurch zusätzlich zu einer völlig neuen Ansicht, einem Aspekt, den es vorher übersehen hat. Zum Beispiel äußerte Kultautor Alan Moore in seinem mehrere literarische Figuren kombinierenden Comic-roman „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“den Gedanken, dass
James Bonds Vorgesetzter M niemand geringeres sei als Mycroft Holmes, der Bruder des weltbekannten Meisterdetektivs Sherlock. Warum? In den Arthur-conan-doyle-geschichten tritt Mycroft nur als Nebencharakter auf, erzählt seinem geliebten Bruder allerdings, dass er seinen eigenen britischen Geheimdienst aufbaut und führt. Hier nun die Brücke zu schlagen und M für Mycroft stehen zu lassen, erscheint daher nur als kleiner Schritt, ungeachtet der Zeitdifferenz eines viktorianischen und eines modernen Londons. In der Fantasie der Leser entsteht dadurch eine fiktive Welt, in der all diese Geschichten unterschiedlichster Autor:innen miteinander verschmelzen und sich vielleicht sogar aufeinander auswirken. Es entsteht eine zweite Realität. War es das toughe Schneewittchen, das Dornröschen aus ihrem hundertjährigen Schlaf geweckt hat? Ihre eigenen Erlebnisse mit einem vergifteten Apfel dürften sie für diese Problematik sicherlich sensibilisiert haben. Und die waffenbewährten Zwerge gaben ihr dabei Rückendeckung. Was wäre, wenn der große, böse Wolf das neue Kindermädchen von Schneewittchens und Rotkäppchens Kindern ist und den beiden die bemitleidenswerte Perspektive der Karnivoren in diesen grausamen Märchen nahe legt wie in dem brillanten Animations-zweiteiler „Es war einmal … nach Roald Dahl“(2016)? Und so weiter.
Das Wunder-nimmerland
In all diesen übereinander gekreuzten Geschichten gibt es also mindestens einen gemeinsamen Nenner oder gar eine ganze Schnittmenge, die die Kombination aus ihnen nahelegt. Was verbindet daher „Peter Pan“mit „Alice im Wunderland“? Um das herauszufinden, bietet es sich an, einen ersten Blick in die Handlung des neuen
Filmdramas „Die Magie der Träume“zu wagen: Die Littletons sind eine glückliche Familie wie aus dem Bilderbuch. Die drei Kinder David (Reece Yates), Alice (Keira Chansa) und Peter (Jordan A. Nash) wachsen in einem idyllisch gelegenen Haus auf, erleben täglich ihre Abenteuer in freier Natur voller Degenkämpfe, Teekränzchen und Piraten. Sie erfahren so viel elterliche Liebe, wie nur irgend möglich. Hinter diesem Märcheniidyll erkennen findige Betrachter allerdings auch große Probleme der echten Welt, die den Kinderaugen weitestgehend entgehen. Das offensichtlichste Problem ist Rose Littletons (Angelina Jolie) kinderlose Schwester Eleanor (Anna Chancellor), die bei jedem ihrer Besuche an den liberalen Erziehungsmethoden herumnörgelt sowie Roses aus der Arbeiterklasse stammenden Ehemann Jack (David Oyelowo) herunter buttert. Ihre ständigen Anstandsallüren nerven einfach, während sich die „rote Herzkönigin“selbst nicht eingestehen will, dass sie sich nichts sehnlicher als eigene Kinder wünscht. Und das ist vermutlich der einzige Grund, weshalb sie Roses Familie so oft besucht. Um ihr diese zu „stehlen“, wie das im Film schon recht früh zitierte Gedicht „The Stolen Child“(1886) von W. B. Yeats suggeriert. In diesem Gedicht, dem auch der originale Filmtitel „Come Away“entlehnt ist, geht es um Menschenkinder, die von Feen in eine naturbelassene Welt geführt werden, weit weg von den Sorgen der Alltagsrealität, die sie ohnehin noch nicht verstehen können. Aha, hier haben wir sie also schon einmal, die größte Schnittmenge zwischen „Peter Pan“und „Alice im Wunderland“. Was für den einen das „Nimmerland“ist, erscheint für die andere als „Wunderland“oder auch Welt hinter den Spiegeln. Ein Zufluchtsort, den die Kinder insbesondere in ihren Träumen
aufsuchen, der ihnen aber auch tagsüber zu einem gewissen Maße offensteht. Und da den Erwachsenen ebenjene Welt für immer verborgen scheint, dürfte klar sein, weshalb sich die Kinder vor der drohenden Adoleszenz sträuben. Obwohl es bei Alice ganz anders ist als bei Peter, doch dazu später mehr.
Die Laster der Erwachsenen
Problem Nummer zwei: Tante Eleanor betrachtet die Kinder beim Bau eines Kartenhauses, was sie zur folgenden Äußerung verleitet – „Dass ihr noch ein Kartenspiel im Haus duldet?!“– ein mehr oder weniger unterschwelliger Nackenschlag auf Jacks Spielsucht, der er abgeschworen hat. Problem Nummer drei: Rose kippt sich gerne mal einen Schluck ihres „Trunks“hinter die Binde. Nichts weltbewegendes, aber dennoch ein nicht selten vorkommendes Ritual. Problem Nummer vier: Jack arbeitet in seinem magisch erscheinenden Wintergarten an komplexen Miniaturmodellen berühmter Schiffe, die er an wohlhabende Interessenten verkauft, um die Miete zahlen zu können. Seine einzige Einnahmequelle ist also nicht gerade von dauerhafter bzw. regelmäßiger Natur. Finales Problem: Jack hat seine Kinder noch nie seinem Vater vorgestellt.
Egal, wie viel Liebe und Fantasie man seinen Kindern angedeihen lässt, wie sehr man sie auch vom Rest der Welt abschirmt, die Realität findet trotzdem statt. Und in ihr gibt es nun mal Unfälle, Tod, Geldnöte und grausame Menschen.
Alice, die Literaturvorlage
Der Abstieg beginnt mit dem Auffinden eines beschädigten Ruderbootes hinter einer Mauer, deren Überquerung den Kindern verboten wurde. Das halb versunkene Boot ist fortan Dreh- und Angelpunkt des fantasiereichen Spiels, bei dem es meistens um spannende Piraten- und Indianerkämpfe geht. Es ist aber auch Sinnbild für etwas Vergangenes, Vergänglichkeit und Vorbote für etwas schreckliches. Ein schweres Unglück reißt ein riesiges Loch in die so mühsam errichtete heile Welt. Während der Schmerz die Erwachsenen in alte Gewohnheiten zurück fallen lässt, entwickeln die Kinder ihre eigene Strategie, um mit der Situation fertig zu werden. Schon Sigmund Freud wusste, dass die Ursache besonders lebendiger Träume stets in schwer zu verarbeitenden Ereignissen liegt. Deshalb gibt es auch so viele tiefenpsychologische Interpretationsansätze bei literarischen Werken wie Lewis Carrolls „Alices Abenteuer im Wunderland“(1865) und James Matthew Barries „Peter Pan“(1902). In beiden Geschichten fliehen die Kinder vor der Alltagswelt in ein magisches Reich, das traumhafte Qualitäten voller Widersprüche besitzt. Alice schrumpft nach dem Genuss eines Trunks auf Daumengröße, um eine winzige Tür zu durchschreiten. Sie folgt einem gestressten Kaninchen mit einer Uhr, trifft die Grinsekatze, nimmt an einer schrägen Teeparty mit dem verrückten Hutmacher teil und spielt mit der köpfenden Herzkönigin Croquet. Selbst eine Gerichtsverhandlung bleibt ihrem ruhelos träumenden Geist nicht erspart. Zumindest solange, bis sie erwacht. In Tim Burtons „Alice im Wunderland“(2010) nimmt die Heldin sogar noch etwas aus dem Wunderland mit und gewinnt Selbstvertrauen und Selbstständigkeit aus ihrer Reise. Sie wird sprichwörtlich über Nacht erwachsen.
Peter Pan, das Original
Bei „Peter Pan“wiederum verhält es sich genau umgekehrt. Dort gibt es kein „Wunderland“, das einem träumerisch bei der Entwicklung unter die Arme greift. Im „Nimmerland“, das ebenfalls nur bei Nacht, quasi nach dem Einschlafen aufgesucht werden kann, bleibt man für immer ein Kind. Es bewahrt also die kindliche Unschuld und die damit verbundene Fantasie. Erwachsene scheint dieses magische Denken, die Fähigkeit
der Vorstellungskraft abhanden gekommen zu sein, weshalb sie den Weg dorthin nicht mehr finden. Statt eines Kaninchens schwimmt hier ein bedrohliches Krokodil mit einer Uhr im Magen durch die Gegend – Tick Tack! – das Geräusch klingt wie eine Drohung vor der vergehenden Zeit, der generellen Vergänglichkeit von allem, dem Altern und dem endenden Leben, das nur ein einziges mal gelebt werden kann. Doch so schön die Abenteuer mit dem ewigen Kind Pan, den verlorenen Jungs, den Piraten und Indianern auch sein mögen, am Ende gelangen Wendy, John und Michael wieder ins sichere Bett ihres eigenen Zuhauses. Auch hier gab es unzählige Verfilmungen, wobei die meisten von ihnen Elemente der Traumdeutung integrierten und den Widersacher Captain Hook beispielsweise mit dem Filmvater der Darling-kinder besetzte (z.b. „Peter Pan“, 2003) oder den flugängstlichen Peter in Spielbergs „Hook“erneut das fliegen lehrten. Aber erst nachdem er seine psychischen Fesseln abgeworfen und seine Rolle akzeptierte. Überhaupt ist das Fliegen als ultimatives Symbol der Freiheit allgegenwärtig in „Peter Pan“.
Adoleszenz
Lange Rede, kurzer Sinn: „Die Magie der Träume“verbindet also zwei Geschichten mit träumerischen, magischen Zufluchtsorten, die jeweils das Gegenteil bewirken. Das eine bewahrt die kindliche Fantasie und verdrängt den Alltag, das andere hilft bei der Verarbeitung ebendessen und fördert den Prozess des Erwachsenwerdens. Hinzu kommt noch Yeats Motiv des Kinder-stehlens – und fertig ist das Crossover-märchendrama. Passend zu den beiden Geschichten tragen zwei von Jacks und Roses Kindern die Namen
Peter und Alice. Das bedeutet keineswegs, dass Peter ausschließlich den Pan gibt und Alice nur an Teegesellschaften interessiert ist. Beide nehmen eine gewisse Zeit lang an beiden Geschichten teil. Alice erhält ein Glöckchen namens „Tinkerbell“, Peter sieht seine Mutter als rote Herzdame, obwohl sie im Gesamtkonzept eher die weiße Königin verkörpert. Erst ab einem bestimmten Punkt trennen sich ihre Ziele und somit auch die Richtungen ihrer Entwicklung. Genau dann präzisieren sich die literarischen Charakter wie in einer mythologischen Genesis. Obwohl der komplette Film kein einziges Mal in einer offensichtlichen Fantasy-welt spielt, schmuggeln sich doch viele Figuren beider Geschichten in die Handlung. Der verrückte Hutmacher, Captain Hook, die rote Herzdame, die verlorenen Jungs, Smee, das weiße Kaninchen, sogar Wendy und die Jungs – sie alle haben es auf sinnvolle Weise in diesen einen Film geschafft. Erzählt wird er von der erwachsenen Alice (Gugu Mbatha-raw), die schon von kleinauf stets betont hat, dass sie kein Kind, sondern eine Lady sei.
Drama mit Märchenmotiven
Blendet man die Literaturklassiker komplett aus und sieht den Film als stringentes Drama, so beobachtet man die kleinen Protagonisten dabei, wie sie versuchen, die Erwachsenenwelt zu verstehen, ihre Probleme zu begreifen und ohne das Wissen ihrer Eltern zu lösen – eine Mammutaufgabe, die ihre Möglichkeiten weit übersteigen sollte. Wieder begeben sie sich in verbotene Gefilde. Doch sie wollen ihre Familie retten, wozu ihnen jedes Mittel recht ist. Zwei Taschenuhren (eine vom Kaninchen, eine vom Krokodil) spielen dabei eine sehr wichtige Rolle - Uhren, die die Rettung, aber auch den Verlust bedeuten könnten. Selbst wenn das Drama kindgerecht aufgebaut ist, so werden vor allem Erwachsene Freude daran haben. Es gibt zwar kleine, schöne Effekte, die das Wunder- und Nimmerland optisch in die Handlung holen, doch junge Zuschauer werden wohl eher spektakulärere Fantasy-blockbuster bevorzugen, die hier in die Vollen greifen. Von beiden Literaturklassikern gibt es
schließlich genügend Verfilmungen, die mehr Schauwerte bieten als dieses Drama. Zuschauer, die sich mit dem Stoff auskennen, werden aufgrund der neuen Perspektive wiederum hellauf begeistert sein, wie gut das alles zusammenpasst – als wäre es schon immer so gewesen. Es ist ein ernstes Drama, hinter dessen magischer Fassade düstere Dinge geschehen. Man muss schon sehr genau aufpassen, um zu verstehen, was mit den Kindern tatsächlich geschieht und weshalb nur noch Alice diese Geschichte von sich, ihren Brüdern und ihren Eltern erzählen kann. Oder man glaubt eben einfach, dass die Magie hierin wirklich existiert.
Bilderbuchoptik
Die Blu-ray benötigt jedenfalls keine weitere metaphysische Hilfe, denn die Technik ist ein kleines Wunderwerk. Der hohe Kontrast verringert die Plastizität minimal zugunsten eines bilderbuchartigen visuellen Stils. Dazu gehören die meiste Zeit über satte Farben und eine unverkennbare hohe Schärfe. Am Ohr vorbei zischende Fantasiepfeile und -speere künden von einer guten Signalortung. Die Atmo-sounds in der verruchten städtischen Handelsgasse könnten mehr Intensität vertragen. Auch der Klimbim-laden des verrückten Hutmachers (Clarke Peters aus „The Wire“) oder die Wälder nahe der Littleton-behausung würden durch eine offensivere 3D-abmischung an Mystik gewinnen. Das 5.1-Hörerlebnis trägt trotz allem zur Immersion bei. Als akustische Emotionskurve lässt einen die dynamische Abmischung an den Gefühlswelten der Protagonisten teilhaben. Hier wurde alles richtig gemacht sowohl bei den dramatischen, gefahrvollen als auch bei den ruhigen Szenen. Für die bekannten erwachsenen Darsteller wurden deren langjährigen Synchronsprecher engagiert und auch die Kinderstimmen klingen absolut natürlich. Bonusmaterial gibt es leider keins, obwohl ein Interview mit den Filmschaffenden sicherlich noch einige Interpretationsschlüssel mit in die Hand gegeben hätte.