Nur ein einziges Leben
Die belgisch-britische Verfilmung von Michael Morpurgos Jugendbuch „Waiting For Anya“beginnt mit einer traumatischen Szene mitten im Zweiten Weltkrieg, in der ein Vater seine Tochter heimlich in einen fremden Zug setzen muss, damit diese nicht wie andere jüdische Familien deportiert wird. Während der Norden Frankreichs von den Nazis besetzt ist, blieb der Süden bislang relativ unbehelligt. Doch auch in den Bergen der Hochpyrenäen sind die Folgen des Krieges deutlich spürbar. Wie die meisten Männer des Dorfes Lescun muss auch Jos (Noah Schnapp) Vater im Krieg kämpfen, weshalb der Junge und dessen Schwester nun von seiner Mutter (Elsa Zylberstein) und seinem Großvater (Jean Reno) großgezogen werden. Jo übernimmt dabei die Aufgabe eines Hirten und hütet täglich die Schafe. Als sich ihm ein Bär gefährlich nähert, nimmt er Reißaus und überlässt den jagdbewährten Herren des Dorfes die Lösung des Problems. Nach getanem
Bärenmord geht Jo seinen zurück gelassenen Hund suchen und findet neben seinem befellten Freund auch einen fremden Mann im Wald, der sich bei der alten Witwe Horcada (Anjelica Huston) weitab vom Dorf versteckt hält. Benjamins (Frederick Schmidt) Gutmütigkeit und dessen Wissen über die Tiere des Waldes faszinieren Jo, sodass er flink hinter das Geheimnis des Fremden kommt: Es handelt sich um den Vater aus dem Prolog, der hier auf die Ankunft seiner verschollenen Tochter wartet und derweil sein Leben für viele andere Kinder riskiert, die über die spanische Grenze geschleust werden sollen. Als deutsche Soldaten in Lescun eintreffen, verschärft sich die ohnehin schon sehr gefährliche Situation.
Der Bär & der Adler
Wie das Buch so ist auch der Film des Regie-neulings Ben Cookson für Kinder ab 12 gemacht. Die Perspektive des jungen Jo ist frei von jedem Vorurteil und erlaubt es, die Situation Schritt für Schritt zu erfassen. Dabei ist Jo keineswegs naiv. Seine unschuldige Frage, weshalb die Deutschen die Juden verfolgen, ist absolut berechtigt. Zugleich erkennt er die Gefahr, die von den Nazi-soldaten ausgeht, auch wenn diese sich gegenüber den Dorfbewohnern recht menschlich verhalten. Wieder einmal spielt Thomas Kretschmann den „guten Deutschen“, zu dem der Protagonist des Films eine seltsam vertraute, aber auch zwiespältige Beziehung aufbaut. War es in „Der Pianist“(2002) noch der Kunst verehrende Offizier, der dem jüdischen Pianisten aufgrund des ihn berührenden Talents half, so ist es hier einfach die Tatsache, dass auch Korporal Hoffmann ein ganz normaler Mensch ist – ein Naturliebhaber und ein Vater. Auf der anderen Seite darf Jo nie vergessen, dass auch Hoffmann zu den Soldaten gehört, die zu einem ganz bestimmten Zweck ins Dorf gekommen sind. Das Filmszenario baut dadurch eine ungeheure Spannung auf, ohne in Extreme zu verfallen. Es dämonisiert nicht, zeigt keine unnötige Gewalt, ist sehr sensibel erzählt, es schont aber auch nicht. Streckenweise erscheint der Ort ähnlich wie das jüdische Dorf in „Zug des Lebens“wie eine heile Welt, in der die Menschen unbehelligt vom Krieg (hier sogar die Dorfbewohner UND die nazideutschen Besatzer) friedlich (ko-)existieren können – ein Märchen-szenario, das zusätzlich durch das ebenfalls märchenhafte Leitmotiv des Bären zu einer Metapher wird. Betrachtet man sämtliche Stellen, in denen Bären vorkommen – also die Begegnungen in der Natur, die Gespräche darüber mit Korporal Hoffmann, der Stoff in der Schule sowie Grimms Märchen „Die drei Bären“– so ist dies eine Handlung für sich, über Eltern und Kinder, Gefahr und Sicherheit. Doch wie bei jedem Märchentraum gehört das Erwachen mit dazu. Entgegen dem deutschen Titel „Nur ein einziges Leben“sind es übrigens mehr Leben, die in diesem Film ausgelöscht werden. In erster Linie bleibt es aber ein gelungenes, vielschichtiges Drama für Heranwachsende.
Biografische Filme mit den entsprechenden historischen Personen zu besetzen, ist eine gewagte Herangehensweise, die dramaturgisch und schauspieltechnisch häufig zu keinem guten Ergebnis führt. Clint Eastwoods „15:17 To Paris“ist solch ein missglücktes Filmexperiment. Doch es gibt auch positive Beispiele wie das vorliegende 2017-er-drama „The Rider“von Chloé Zhao. In diesem modernen Arthousewestern spielen Brady, Tim und Lilly Jandreau sich selbst und erzählen über das Leben eines Reiters, der vermutlich nie wieder an einem Rodeo teilnehmen darf, und seiner Familie. Nachdem Brady von einem Pferdetritt am Kopf verletzt wurde, kann er von Glück reden, dass er noch lebt.
Das Glück der Erde …
Sein Schicksal scheint dennoch besiegelt, da er von kleinauf nichts anderes gemacht hat, als Pferde zuzureiten und für den Rodeo-wettbewerb zu trainieren. Das Berufsverbot trifft ihn deshalb so hart, weil er nichts mehr liebt, als im Sattel zu sitzen. Geht er das Risiko ein, erwartet ihn möglicherweise ein fortschreitender Hirnschaden, seine große Leidenschaft aufzugeben, kommt für ihn allerdings auch nicht in Frage. Unter seinen Freunden und Bekannten befinden sich so einige Opfer schwerer Rodeo-unfälle wie etwa Lane Scott (spielt sich ebenfalls selbst), der nun im Rollstuhl sitzt und sich nur noch über seine Fingerbewegungen und ein wenig Mimik ausdrücken kann – eine Warnung für Brady, dessen Zukunft ebenso aussehen könnte. Das schwierige Verhältnis zu seinem Vater Tim macht seine Situation nicht einfacher. Bemerkenswert, wie ehrlich der echte Tim Jandreau hier seine eigenen Verfehlungen darstellt. Die geldfressende Spielesucht und die Nachlässigkeit beim Zahlen der Miete sorgen immer wieder für Ärger zwischen Brady und ihm. Dabei könnte er damit auch seine geistig behinderte Tochter Lilly mit ins Unglück oder zumindest in die drohende Obdachlosigkeit stürzen.
Derweil üben auch Bradys Freunde sozialen Druck auf ihn aus, weil ein „Cowboy nunmal mit Schmerzen reitet“. Zwischen all diesen Meinungen, muss sich der junge Mann seinen eigenen Weg bahnen, was sehr schwierig ist, wenn man ihn gerade erst verloren hat.
Dokumentarisch, menschlich, einfühlsam
Mit einem guten Gespür für Situationen und die expressionistische Darstellung komplexer Gefühlswelten gelingt es Regisseurin Chloé Zao äußerst stimmungsvolle Bilder voller echter Momente zu erzeugen. Es ist, als hätte sie sich mit einer Kamera zwischen reale Menschen gesetzt, um deren gerade stattfindendes Schicksal einzufangen. Authentischer lässt sich ein fiktionaler Film also gar nicht mehr gestalten. Mag sein, dass Brady Jandreau kein Schauspieler im klassischen Sinne ist, aber hätte ihn beispielsweise der ihm recht ähnliche aber ältere Josh Hartnet gespielt, wäre entweder gleichwertiges oder weniger authentisches dabei herausgekommen. Mit Hilfe des ultimativen Method-actings musste Brady das Geschehene also noch einmal komplett durchleben, was er auch mit Bravour gemeistert hat.
Frieden
Um seine Leidenschaft zu verstehen, beobachtet die Kamera beispielsweise geduldig, wie er tatsächlich ein junges Pferd zureitet, das niemanden an sich heranlässt und lieber herum bockt. Grandiose Landschaftspanoramen fangen das Gefühl der Freiheit ein, farbverfremdete Innenaufnahmen die Beklommenheit der auferlegten Beschränkung. Während die Schärfe fast immer exzellent ist, scheitert der Kontrast am schlechten Schwarzwert. Ebenso ist der Sound eher ruhiger Natur.