Sündiges Tokio
Zwischen Zensur, Kunst und Perversion
Kein anderes Land geht so widersprüchlich mit Sexualität um wie Japan. Die mediale Darstellung von Sex wird dort im allgemeinen lockerer gesehen als beispielsweise in christlich geprägten Ländern. Zugleich existieren Gesetze aus dem 19. Jahrhundert, die explizite Pornografie verbieten. Willkommen in der Welt japanischer Erotik!
Schwarze Balken, Tentakel-sex, gezeichnete Ballonbrüste, Schuluniformen, romantisierte Harems-, Macht- und Vergewaltigungs-fantasien – die japanische Erotik ist eine Geschichte voller Missverständnisse, fehlgeleiteteter Emotionen, kurioser Fetische sowie einer außerirdisch erscheinenden Kreativität darin, die überschüssige Lust in die seltsamsten Genre-richtungen zu lenken und damit Geld zu verdienen. Ein Beispiel zum Aufwärmen?
Ein männlicher Künstler sitzt im Wartezimmer eines Zahnarztes und erblickt eine attraktive Frau, die mit ihm später auch den Behandlungsraum teilt. Als er für die Zahnbehandlung anästhetisiert wird, beginnt für ihn ein ziemlich schmuddeliger Tagtraum, in dem die schöne Fremde sexuell vom Zahnarzt belästigt, ja sogar vergewaltigt wird. Als der mehr oder weniger unfreiwillige Voyeur erwacht, ist er sich nicht ganz sicher, ob es nun ein Traum oder Realität war – wobei die Bissmale am Busen der Dame zu letzterem verweisen. Diese Handlung stammt vom ersten Big-budget-erotikfilm Japans, der 1964 veröffentlicht wurde und den Titel „Hakujitsumu“(„Tagtraum“) trägt. Es ist auch einer der ersten Filme, die wegen einer zu expliziten Darstellung Ärger mit der Zensurbehörde bekamen. Nicht etwa, weil hier völlig unkommentiert eine Vergewaltigung dargestellt wird oder wegen der generellen Nacktheit, sondern weil man die Schambehaarung der Schauspielerin sehen kann und die Darstellung ebenjener, genauso wie das Zeigen primärer Geschlechtsorgane seit der Meiji-ära verboten sind. Und so wurde „Hakujitsumu“eben auch der erste Film, bei dem ein neblig weißer Punkt bemüht wurde, um das Kino-publikum vor ungewollter Schambehaarung zu bewahren – eine Zensur-technik, die inzwischen genauso zur japanischen Pop-kultur gehört wie der schwarze Balken oder auch die freizügigere Verpixelung.
Das (Scham-)haar in der Suppe
Dieser filmische Tagtraum ist übrigens ein Musterbeispiel für alles, was folgen würde. Er ist weder pornografisch, da er ja auf ein Mainstream-publikum abzielt und keine Genitalien zeigt, noch ist er billig. Die Handlung ist wesentlich mehr, als gängige westliche Porno- oder Erotikfilme jemals zustande brachten, deren „Drehbücher“meist simple Entschuldigungen für die nächste Sex-szene sind. („Was ist das? Heu!“) Es existiert sogar eine literarische Vorlage, eine Kurzgeschichte des für den Nobelpreis nominierten Autoren Jun’ichirō Tanizaki. Und der Streifen wurde 1964 auf dem Filmfestival von Venedig präsentiert, ohne zugelassen zu werden. Trotz seines für westliche Augen besonders skandalösen Inhaltes, kann ihm das Fehlen einer gewissen filmischen Ästhetik nicht abgesprochen werden. Er wurde mit hochwertigen Kameras und künstlerischem Anspruch eingefangen. Doch die Kontroverse war offensichtlich, sowohl auf dem internationalen Markt als auch auf dem Inner-japanischen, trieb dort doch gerade einmal zwei Jahrzehnte zuvor der Film „Oitsu Owaretsu“(1946) mit der ersten Kuss-szene der japanischen Filmgeschichte dem Publikum die Schamesröte ins Gesicht.
Heißt das etwa, die Japaner sind ein prüdes Volk mit unterdrückten Trieben, die nur darauf warten, diese in gesellschaftlich geduldeter heimlicher Perversion auszuleben, während sie sich die Maske der Prüderie bewahren? Ein ganz klares Nein! Ungeachtet dessen, dass solche Verallgemeinerungen grundsätzlich zu hinterfragen sind, haben die medialen Widersprüchlichkeiten eher andere Ursachen als Prüderie, die dem christlich geprägten Abendland vorbehalten bleibt.
Umschwung in der Meiji-ära
Bevor sich Japan dem Westen öffnete, florierte der Porno-markt besonders in der Hauptstadt Edo, die viele junge Männer besuchten, um dort ihre Lehrjahre zu verbringen, fernab ihrer Frauen und Geliebten. Der Mangel an erfüllter Sexualität sorgte für einige Probleme. Um die Stadt nicht zum Pulverfass aus überschüßigem Testosteron und jugendlicher Unvernunft werden zu lassen, entschärfte die Obrigkeit die Situation durch staatlich kontrollierte Prostitution. Auch Pornografie z. B. in Form von erotischen Romanen oder Drucken verschaffte in vielerlei Hinsicht Erleichterung. Erlaubt war damals alles. Zugleich ließen sich züchtigere Versionen solcher Drucke auch gut als Anschauungsmaterial zur sexuellen Aufklärung verwenden, die nicht selten erst vor der Hochzeitsnacht erfolgte.
Erst der Vergleich mit der westlichen Zivilisation und deren Einfluss auf die japanische Regierung während der Meiji-restauration im 19. Jahrhundert sorgte für einen starken Rückgang der zuvor so offenen medialen Sexualität. Man wollte gegenüber Europa ja schließlich nicht unzivilisiert wirken. Aus dieser Zeit stammt übrigens das oben genannte Verbot dargestellter Genitalien, das auch heute noch die Kreativität in Sachen Gesetzes-umgehung aufs äußerste fördert. Gezeichneter oder beschriebener Sex waren damals zwar immer noch zugänglich, aber verpönt. Fotografien sowie das jüngere Medium Film wiederum eröffneten im 20. Jahrhundert neue Möglichkeiten und standen daher unter strengerer Kontrolle. Während des Zweiten
Weltkriegs wurde Pornografie gleich ganz verboten. Danach wirkte sich die amerikanische Besatzung in zweierlei Hinsicht auf das Land aus. Als ein stark verallgemeinertes Fazit ließe sich daraus schließen, dass das gesteigerte (Körper-) Schamgefühl als kulturelles Phänomen vom Westen auf Japan überschwappte, denn weder (aus Japan stammende) religiöse noch feministische Einflüsse hatten großartig mit der immer noch jungen Zensur-bewegung Japans zu tun. Zugleich machten die Japaner nach dem Krieg erstmals Bekanntschaft mit einem Magazin namens „Playboy“– dem zweiten westlichen Einfluss, der in zahlreichen schlüpfrigen Magazinformaten mündete.
Die wilden 1960er & 1970er
Und da sind wir wieder in den Jahrzehnten des ersten japanischen Big-budget-erotik-streifens, in dem der „Pink Film“bzw. „Roman Porno“(romantischer Porno) seine Geburtsstunde feierte. Während in Europa und den USA erst in den 1970ern filmische Pornografie legalisiert wurde, durfte in Japan schon in den 1960ern alles gezeigt werden, was kein Genital oder Schamhaar war. Das heißt natürlich nicht, dass es keine Rechtsstreitigkeiten gab, im Gegenteil! Und dennoch wurden Pornokinos und Nachtprogramme im Fernsehen mit ausreichender Soft-erotik geflutet. Apropos Fernsehen – diese neue Technologie brachte eine finanzielle Katastrophe für vom Kino abhängige Filmstudios mit sich, ähnlich der Folgen der heutigen Streaming-technologie.
Auch das 1912 gegründete Traditionsunternehmen Nikkatsu, was sein Geld zuvor mit Jugenddramen und Actionfilmen verdiente, musste sich in den 1970ern völlig neu orientieren, um überleben zu können. Dadurch, dass die eigenen vier Wände etwas mehr Privatsphäre boten als ein Kino, war die Soft-porno-industrie ein durchaus potenter finanzieller Rettungsanker. Und weil der junge Markt auch viele andere Studios anlockte, sollten die unterschiedlichsten Genres, seltsamsten Fetische und abgedrehtesten Ideen dafür sorgen, sich von der Masse abzuheben, ohne die Zensur zu verletzen. Schon im ersten Jahr dieser neuen Ausrichtung veröffentlichte Nikkatsu wie am Fließband Roman Pornos: Vom Alltags-sex der Arbeiterklasse in „Apartment Wife: Affair In the Afternoon“über mittelalterlichen Samurai-sex in „Castle Orgies“bis hin zu lesbischen Highschool-sex-melodramen mit Aalen in „Coed Report: Yuko’s White Breasts“war einfach alles möglich. Hier gab es Sex-parodien wie beispielsweise „Naked Seven“(entsprechend Akira Kurosawas „Sieben Samurai“), Krankenschwestern-erotik wie in „Seduction Of The White Angel“, Sex-komödien wie „Amorous Family: Like A Fox And A Racoon“oder auch erotischen Geister-horror wie in „Erotic Story: The Peony Lantern“(alle 1972). Alles, was Erfolg hatte, wurde zudem fortgesetzt oder kopiert wie beispielsweise „Sex Rider: Wet Highway“, dessen Sequel den ins englische übersetzten Namen „Injured Lust“trägt. Oder auch die sage
und schreibe 21teilige „Appartment Wife“reihe, mit der für Nikkatsu alles Pink wurde.
Männliche Gewaltfantasien
Mit der Einführung von Heimvideo-formaten Mitte der 1970er Jahre wurde diese Entwicklung potenziert und die Titel sowie die Inhalte wurden expliziter und tabubrechender, um noch stärker herauszustechen: Titel wie „Rape Climax“, „Flesh Target: Rape!“, „Momoe’s Lips: Rape Shot“(alle 1979) sind relativ selbsterklärend und fantasieren von der Macht des Mannes über die vollkommen machtlose Frau, die sich zwar wehrt, letztendlich aber skandalöserweise anscheinend doch ihrer Vergewaltigung nicht abgeneigt scheint. Offensichtlich zielte man damit ausschließlich auf die männliche Zielgruppe ab, der mit solchen Filmen potenzieller Sex mit allem und jedem suggeriert wird. Ebenso boomen nach wie vor Sado-maso- und Bondagefantasien, die ebenfalls ein Spiel mit der völligen Unterwürfigkeit treiben. Alte Herren, die mit jungen Frauen schlafen – das ist auch eine beliebte Sparte in Japan. Komisch, dass den älteren Porno-zuschauerinnen dieses Privileg weitestgehend vorenthalten bleibt. Ein weiteres Tabu sind inzestuöse Szenarien wie in der Soap-opera „Forbidden Ordeal“, die scheinbar Männer ohne große soziale Außenkontakte ansprechen sollen. Es muss nicht extra erwähnt werden, dass das Frauenbild in diesen Produktionen katastrophal ist und selbst in den zahlreichen Filmen, die keine Vergewaltigung zeigen, wirken die weiblichen Charaktere definitiv nicht, als würden sie irgendeine Form der Lust am sexuellen Akt verspüren. Stattdessen: weinerliches Gequietsche, Passivität (der Mann biegt sich sein Opfer zurecht, wie er es gerade braucht) und verkrampfte Rütteleien mit verkniffenen Gesichtern. Bis heute hat sich daran leider nicht viel geändert, obwohl sich Filme wie Sion Sonos „Antiporno“(2016) mit den in Pornos dargestellten Erniedrigungsmechanismen und Geschlechterkämpfen zwischen Mann und Frau sozialkritisch auseinandersetzen. Dieser Kampf wird daher beispielsweise in „Wet Woman In The Wind“(2016) auf recht bildliche Art ausgetragen, in dem sowohl Frau als auch Mann eine gleichberechtigtes Interesse an der Sexualität haben.
Wie unterschiedlich und vielfältig Roman Porns sein können, zeigt sich in den 2016 zum 45. Jubiläum von Nikkatsus Erotik-sparte erstellten Hommagen an die Pink-films (siehe auch Übersicht), von denen hier schon einige genannt wurden. Nach Deutschland haben es relativ wenige geschafft, was kein Wunder ist: Schließlich bewegen sie sich zwischen den Genres und verknüpfen nur selten das beste aus diesen. Und dennoch geht von ihnen eine gewisse, verruchte Faszination aus, da sie filmischen Anspruch mit durchpsychologisierter Erotik kombinieren.
Medienvielfalt
Dass japanische Pornografie auch vor Medien wie dem Zeichentrickfilm, Comics oder Videospielen keinen Halt macht, ist allgemein bekannt. Während in westlichen Gefilden die drei genannten Medien vor nicht allzu langer Zeit noch ausschließlich als Kinderkram abgewunken wurden, werden Animes, Mangas und Games in Japan schon lange altersübergreifend konsumiert. Ein weiterer Grund, weshalb pornografische Inhalte im Land der aufgehenden Sonne in solchen Formen so gut ankommen ist, weil sich durch solch starke Abstraktion wie dem Zeichnen wesentlich leichter das Zensur-gesetz umgehen lässt. Statt Penisse schlängeln sich in Animes wie beispielsweise der „Urotsukidôji“reihe dann eben Tentakel unter die Röcke der Frauen. Manche Animes umgehen das Verbot
der expliziten visuellen Darstellung auch, indem sie den Sex durch gut hörbare Glitsch-geräusche einfach akustisch darstellen. Selbst detaillierte Innenaufnahmen während des Aktes verstoßen nicht gegen das Gesetz, das sich ja nur auf die äußere Darstellung bezieht. Inwiefern das erotisch sein soll, steht auf einem anderen Blatt. In dem Comedy-anime „Ogenki Clinic“erhält das völlig überdimensionale Glied des Sexklinik-leiters ein freundliches Gesicht mit Bart und agiert teilweise sogar als eigenständiger Charakter mit eindeutiger Mimik. Und so weiter. In Kombination mit dem typischen Japano-stil vieler Mangas – also im Allgemeinen große Augen, kleine Nase, kleiner Mund – dem unerklärlichen (Cosplay-)fetisch für Schuluniformen, der Quietschestimme sowie der Abwesenheit von gezeichneter Schambehaarung entsteht natürlich oft schnell der Eindruck, dass hier pädophile Fantasien bedient werden.
Anime vs. Realfilm
Viele Harems-animes spielen an High-schools, in denen die Studenten und Studentinnen (wie sie in solchen Animes meist genannt werden) ein Alter zwischen 16 und 18 Jahren bekleiden. Auf diese Weise bedienen solche dem Ecchi(mit sexuellen Andeutungen) oder auch Hentaigenre (mit Sex) angehörigen Filme und Serien die Fantasien der Jugendlichen, die ihre in dem Alter enorme Triebhaftigkeit gerade erst neu für sich entdecken und damit die perfekte Zielgruppe für die kapitalorientierte Porno-industrie darstellen. Auch Boyslove- und Girlslove-mangas/ Animes/spiele erfreuen sich bei Teenagern seit langem großer Beliebtheit, während Homosexualität in unseren Gefilden immer noch ein mediales Ausnahmethema ist, wobei es inzwischen erfreulicherweise mit mehr Gelassenheit betrachtet wird. Dass es natürlich auch Erotik-streifen und Pornos gibt, in denen beispielsweise Lehrer-figuren ihre Vormachtstellung ausnutzen um (Ü18-)schüler-figuren sexuell zu nötigen, sollte ebenfalls nicht verschwiegen werden. Das hat der japanische Markt jedoch mit dem europäischen und Us-porno-markt gemein.
Pornos mit Handlung
Zum Abschluss bleibt zu sagen, dass sich die Sexualisierung sowie die Bedienung von Fetischen in japanischen Formaten in den letzten Jahren gesteigert hat. Beispielsweise fällt auf, wie viele Rollenspiele ballonbrüstige, knapp bekleidete Heroinnen aufweisen, die mit einem käuflich erwerbbaren DLC in Schuluniform, Krankenschwesterngewandt oder Bikini gepresst werden können. Nicht selten sorgen „versehentliche“Busengrabscher oder anderer „Fanservice“in Anime bzw. Manga für Blutfontänen aus der Nase. Das gab es alles freilich schon früher (beispielsweise in „Dragon Ball“). Interessant ist der anhaltende Boom abstrahierter Erotik trotzdem, denn zugleich verweilt japanische Realfilm-erotik selbst zu Zeiten des World Wide Web größtenteils innerhalb der Landesgrenzen. Die wenigen Film-exemplare, die deutsch synchronisiert werden, erscheinen daher als wahre Exoten, welche beispielsweise als Kuriositäten in die Blu-raysammlung zu einem bestimmten japanischen Regisseur kommen, der möglicherweise durch ganz andere Filme im internationalen Raum an Bedeutung gewonnen hat. Ein paar interessante Beispiele hierfür finden Sie in der Übersicht.