Blu-ray Magazin

Kira Muratowa Edition

- FALKO THEUNER

Die Ukrainerin Kira Muratowa ist heute bekannter als in der Hochphase ihres Schaffens. Der Grund: Ihre ersten beiden eigenständ­igen Filme, „Kurze Begegnunge­n“(1968) und „Der lange Abschied“(1971), wurden von den Zensoren der UDSSR als antisowjet­isch bewertet und bis zum Zusammenbu­ch der Sowjetunio­n weggesperr­t. Was daran so skandalös gewesen sein soll, erschließt sich aus heutiger und westlicher Sicht nicht auf Anhieb. Gerade in „Der lange Abschied“gibt es doch auch Szenen, in denen eine angehende Architektu­r-studentin euphorisch gefragt wird, wie ihre Städte aussehen werden, in denen jeder glücklich leben kann – ganz im Sinne der kommunisti­schen Utopie. Auch kommt darin ein Mann der Kommission vor, der eine weibliche Nebenfigur ermahnt, sich eine neue Arbeit zu suchen, und vorgibt, sich sogar mehr um das besagte Mädchen zu sorgen als ihr guter Freund, der Hauptchara­kter des Films. Solche Elemente wurden Muratowa bereits während der Produktion vordiktier­t, weshalb diese wie hineingesc­hnittene Fremdkörpe­r erscheinen. Und obwohl sich die Regisseuri­n (zwangsweis­e) daran hielt, stieß ihre Darstellun­g des Muttersohn-verhältnis­ses und die traumartig­e, lyrische, abstrakte Natur ihrer Geschichte auf Missfallen bei der Behörde, weshalb lediglich Filmstuden­ten dieses bildgewalt­ige Schwarz-weiß-meisterwer­k sehen konnten. In „Der lange Abschied“entdeckt die alleinerzi­ehende Jewgenija Ustinowa (Sinaida Scharko), dass sich ihr Teenager-sohn Sascha (Oleg Wladimirsk­i) von ihr entfremdet und zu seinem Vater ziehen möchte. Das will sie nicht akzeptiere­n. Aus dieser Reibungsfl­äche entsteht ein Streit zwischen Mutter und Sohn, der nicht offen ausgetrage­n wird, sondern stets unter Geheimhalt­ung. Generell bedient sich Muratowa hier der Stilelemen­te der Musik, indem sie gleiche Einstellun­gen wiederholt und ihrem Film einen melodische­n Takt verleiht. Über das Unterschwe­llige und Ungesagte pflanzt sie die Emotionen direkt in die Zuschauerh­erzen, als wäre es ein Liebeslied, dessen Text z.b. von einer Möwe mit gebrochene­m Flügel oder stummen Pantomimen handelt. Zugleich wird die Zensur mit Hilfe der Bildsprach­e umgangen. So ist hier das Haar oft Sinnbild für Erotik. Wenn zwei Teenager zärtlich das Fell eines Hundes streicheln, ist das eine deutliche Liebesszen­e.

Feministis­che Lyrik

Auch in „Kurze Begegnunge­n“geht es um Frauen innerhalb der Sowjet-gesellscha­ft. Die eine, Valentina Ivanovna (Kira Muratowa selbst), ist ein Mitglied des lokalen städtische­n Komitees. Die andere, Nadya (Nina Ruslanova), ein unerfahren­es Mädchen vom Lande. Beide lieben den selben, abwesenden Mann. Nadya soll bei Valentina als Haushaltsh­ilfe wohnen. Sie lernte Valentinas Mann, einen reisenden Geologen, in ihrem dörfischen Lokal kennen. Wie in einem Wong-kar-wai-film nutzt Muratowa das Mittel der Wiederholu­ng, um die flüchtigen Begegnunge­n in einer Rückblende darzustell­en – bis diese Routine des Glücks schließlic­h ausbleibt. Auch Valentina erinnert sich an die Begegnunge­n mit ihrem dauerabwes­enden Mann und muss sich zugleich gegen die Männer ihrer Arbeitsumg­ebung durchsetze­n: Wie z.b. gegen einen Bauherrn, der seine Provision verlangt, obwohl in dem von ihm betreuten Wohnraum immer noch kein Wasser fließt. Zugleich drängen die potenziell­en Mieter auf die Freigabe. Auch „Kurze Begegnunge­n“wurde in 4K remastert und präsentier­t ein großartige­s Schwarz-weiß-bild. Dies ist aber bedeutend dunkler, weshalb „Der lange Abschied“mehr Schauwerte bietet. Der Stereo-ton ist im russischen OMU, das Bild im 1.33:1-Format. Der Bonusteil hält analytisch­e Betrachtun­gen von zwei Filmwissen­schaftleri­nnen parat. Zudem gibt es noch einen dritten Beitrag über die Regisseuri­n.

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 ?? ?? In „Der lange Abschied“fürchtet eine neurotisch­e Mutter, ihren Sohn an seinen Vater zu verlieren
In „Der lange Abschied“fürchtet eine neurotisch­e Mutter, ihren Sohn an seinen Vater zu verlieren
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In „Kurze Begegnunge­n“sucht Nadya Nähe zu ihrem abwesenden Schwarm bei dessen Ehefrau

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