Lockdown Tower
Jede Familie hat ihre Dämonen
Vollkommen aus dem Nichts sind die Bewohner eines mehrstöckigen Sozialbaus eines Tages in ihrer Behausung eingeschlossen. Vor den Fenstern und Türen wartet nichts als blickdichte Dunkelheit. Entkommen ist unmöglich. Der „Nebel“verschluckt alles. Statt zusammenzuhalten, bilden sich Gruppen, die sich untereinander skeptisch beäugen. Die Spannungen wachsen, ebenso wie die Untergrundmachenschaften. Es wird gedealt, gedroht, gestohlen. Als die Lebensmittel ausgehen, zählt nur noch das Recht des Stärkeren. Die Etagen sind Kriegsgebiet und eine Einnahme ein Territorialgewinn. Ein erbarmungsloser Überlebenskampf ufert aus.
Dass Regisseur Guillaume Nicloux die Idee während der Corona-quarantäne-welle kam, erzeugt einen realistisch klaustrophobischen Akzent und eine Erklärung, die sonst ausbleibt. Warum die Außenwelt von jetzt auf gleich nicht mehr erreichbar ist (nur Strom und Wasser fließen noch), bleibt ungewiss. Auch durch den Wust an Figuren findet sich nur schwerlich ein Zugang zu einzelnen Charakteren. An Sympathieträgern fehlt es gänzlich. Stattdessen dominiert ein hoffnungsloses, fieses Bild in düsterer Farbgebung. Atmosphärisch beklemmend fehlt es „Lockdown Tower“auch an Höhepunkten. Nicloux ist das Risiko eingegangen, bis dato völlig unbekannte Schauspieler in einem renovierungsbedürftigen Hochhaus in Paris zu versammeln. Diese „Alles oder nichts“-karte hinterlässt trotz guter Idee einen unbefriedigenden Gesamteindruck. Dem Mediabook liegt noch ein Booklet mit Hintergrundinfos, ein Interview mit dem Regisseur sowie eine Uhd-version bei.
ASteigende Gradzahl
uf der Erde wird es immer heißer und durch die Luft sausen elektromagnetische Wellen voller unsichtbarer Daten und unendlicher Botschaften, dem 5G-netz sei Dank. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese aktuelle Entwicklung auch in Horrorfilme schwappt. Das spanische Drama „The Elderly“nutzt die Motive der Hitze und unbekannter Botschaften für einen Generationenkonflikt, der zunächst mehrere Interpretationen zulässt. So führt der Selbstmord einer Großmutter zu einem Familiendrama inmitten einer apokalyptischen Endzeit. Es ist der erwachsene Sohn der Verstorbenen, Mario (Gustavo Salmerón), welcher nach der Ursache ihres Suizids fragt, ohne Antworten zu finden. Gleichzeitig steht er dem Verfall seiner eigenen Familie machtlos gegenüber, denn die Aufnahme seines alten Herren reißt eine tiefe Kluft zwischen ihn, seine zweite Ehefrau Lena (Irene Anula) und seine Teenager-tochter aus erster Ehe, Naia (Paula Gallego). Letztere ist die Empathin der Familie und kann sich am besten in die Großeltern hineinversetzen, distanziert sich aber von ihrem eigenen Vater. Opa Manuel (Zorion Egileor) benimmt sich hingegen immer seltsamer, hört auf fremde Stimmen und begegnet der schwangeren Schwiegertochter offen feindselig. Überhaupt scheinen die steigende Hitze und die Stimmen den zahlreichen Alten zu schaden. Oder wird ihnen etwa ein Weg gewiesen? Derweil zitiert man auf Rosas (Ángela López Gamonal) Beerdigung die Auferstehung der Toten aus der Bibel. Was nun wirklich hinter der extrem unheilvollen Atmosphäre steckt, offenbart der Film, wenn überhaupt, nur schrittweise. Offensichtlicher ist die Bedrohung der Alten durch die Jungen und umgekehrt. So wird am Essenstisch überlegt, ob es nicht besser wäre, Manuel in ein Pflegeheim zu stecken. Kurz vorher schickt er eine Morddrohung gen Lena und ihr ungeborenes Kind. Den größten Profit schlagen demnach die Zuschauer, welche versuchen, diese ganzen Rätsel zu entschlüsseln. Soll es ein christliches Gleichnis über den unmoralischen Umgang mit Senioren in der heutigen Gesellschaft sein? Oder sind die Alten diejenigen, die den nächsten Generationen einen geschundenen Planeten hinterlassen? Gibt es vielleicht eine Frequenz bzw. eine Standleitung ins Reich der Toten? Soll etwa die Apokalypse verhindert werden? Die Geburt des Antichristen? Ist 5G die Ursache, dass die ganze Menschheit verrückt spielt? Mit diesen Tropen spielt „The Elderly“in jedem Fall gekonnt, indem es eine zum Schneiden dicke, bedrohliche Atmosphäre aufbaut. Statt klarer Monster lösen alte Menschen Angstgefühle aus. Und natürlich fragt man sich, weshalb nur sie die Stimmen bewusst wahrnehmen, während die Jüngeren diese entweder gar nicht hören oder einfach ignorieren? An einer Stelle des Films erklärt Manuel seiner geliebten Enkelin, dass ihre Großmutter zur Nazi-zeit den Hitlergruß verweigerte und sich auch sonst nie unterordnete. Und das sie, die geduldig Zuhörende, in dieser Hinsicht ebenfalls etwas ganz Besonderes sei. Einen deutlicheren Schlüssel kann man der Zuschauerschaft nicht in die Hand drücken. Wer genau hinschaut, wird erkennen, dass das Ende keineswegs ein offenes ist, sondern relativ klar die am wenigsten erwartete Interpretation bedient. Das könnte einige enttäuschen, passt aber hervorragend zu den vorangegangenen John-carpenter-esken, drastischen Szenen. „The Elderly“ist kein herausragender, besonders gruseliger oder sonderlich spannender Film. Das Einzige, was er richtig gut macht, ist die unheilvolle Stimmung, so lange es geht, beizubehalten bzw. zu intensivieren. Wer keinen großen Aha-moment erwartet, kann mit diesem arthousigen Generationendrama also durchaus seine Freude haben. Optional lässt sich der Film auch als Mediabook erstehen.
Fünf Menschen gefangen in einem Würfelspiel, das nicht nur fatale Fallen, sondern auch ihre eigenen dunklen Seiten offenbart. Ist das der lang erwartete „Monopoly“-film? Nein, das ist „Cube“. Denn der Würfel, selbst ein gigantisches Gebilde bestehend aus vielen kleinen würfelförmigen Räumen, ist das Gefängnis. Jeder neue Raum könnte eine Falle bergen, doch sie alle sehen gleich aus. Ein Entkommen scheint unmöglich. 1997 entstand Vincenzo Natalis Indiehorror noch aus einer Notwendigkeit heraus. Mit wenig Budget und wenigen Darstellern wollte er an einem einzigen Set drehen, ohne dass es sich wie ein solches anfühlt. Die zwei Fortsetzungen „Hypercube“und „Cube: Zero“hatten zwar mehr Budget und behielten die Grundidee bei, ernteten jedoch schlechtere Wertungen. Zwanzig Jahre später will ein japanischer Regisseur das Franchise zurückholen.
Japanisches Remake mal anders
Remakes von japanischen Franchises sind vor allem im Horrorbereich nichts Neues. In den 2000ern war es sogar ein regelrechter Trend, die „Ring“s und „Ju-on“s bzw. „Grudges“dieser Welt auf den westlichen Markt loszulassen. Erst kürzlich entstand mit „Final Cut Of The Dead“ein französisches Remake des japanischen Geniestreichs „One Cut Of The Dead“, während Netflix nebenbei alle erdenklichen Animes in westliche Realverfilmungen verwandelte. Erinnert sich noch jemand an „Death Note“oder „Cowboy Bebop“? Dass es in wenigen Fällen auch umgekehrt geht, zeigte die eigenständige Fortsetzung „Paranormal Activity: Tokyo Night“, die man auch gut und gerne als Remake bezeichnen könnte. Dennoch ist ein komplettes Remake einer kanadischen Filmreihe wie im Fall von „Cube“etwas überraschend. Nicht etwa wegen der Thematik. Die passt sogar richtig gut auf den japanischen Markt. Mehrere Fremde sind an einem geschlossenen Ort gefangen und werden durch Fallen und psychische Spielchen einer nach dem anderen ausgeschaltet. Im Manga- bzw. Anime- und Videospielbereich ist das geradezu ein Subgenre. Schon die ersten Minuten von „Cube“erinnern an bekannte Vertreter wie der „Zero Escape“reihe, „Danganronpa“oder „Alice In Borderland“. Aber genug von den Querverweisen. Wie schlägt sich das Land, das „Takeshi’s Castle“erfunden hat, im tödlichen Spießrutenlauf?
Die Gefallenen sind gewürfelt
Das Remake teilt viele Qualitäten mit seiner Vorlage. Die Besetzung ist überschaubar, jeder kommt mit eigenen Stärken und Problemen. Auffällig ist die Überpräsenz männlicher Darsteller, wobei die einzige weibliche Gefangene kaum Sprechzeit bekommt. Das Schauspiel ist generell sehr theatralisch. Dramatische Szenen wirken eher melodramatisch. In einem kleinen Kammerspiel wie diesem fällt das umso stärker auf. Einer der Kniffe des Remakes ist es, den autistischen Kazan durch einen traumatisierten Jungen zu ersetzen, der trotzdem ähnlich gut im Kopfrechnen komplexer Formeln ist. Als eigenständiger Film funktioniert der neue „Cube“ganz gut, da er sich der originalen Twists und Rätsel bedient. Wer das schon kennt, vermisst hier aber Spannung. Keine Frage, der Klassiker von 1997 gewinnt in fast jeder Hinsicht. Das Drama zwischen den Darstellenden ist packender, jeder trägt sein eigenes Gewicht und die Hoffnungslosigkeit ist spürbarer. Immerhin kann sich das Remake neueste Filmtechnik zunutze machen. Der Würfel wirkt stabiler, gefährlicher, die Fallen (z.b. große Laser-gitter) tödlicher. Die Blu-ray kommt mit einem neuen 40-minütigen Interview mit Vincenzo Natali, dem Regisseur des Originals, in dem er über dessen Entstehungsprozess berichtet. Außerdem enthalten sind die Trailer für Remake und Original. Letzteres gibt es übrigens ganz frisch auch als Blu-ray-mediabook.
Bereit für eine echte Therapiesitzung voller Verwirrung, Horror und Psychoterror, die mehr als verstört und ratlos zurücklässt? Eine Warnung vorweg: Diese Therapiesitzung mit Joaquin Phoenix dauert ganze drei Stunden und ist nichts für schwache Nerven. Entweder man liebt oder hasst den Film. „Beau Is Afraid“kann als wahres Leidenschaftsprojekt des Autorenfilmers Ari Aster gesehen werden. Die Albtraumkomödie ist nach „Hereditary“(2018) und „Midsommar“(2019) erst sein dritter Kinofilm, jedoch arbeitete er daran schon als Filmstudent und entwickelte sie zuletzt zum Kurzfilm „Beau“(2001), dessen Inhalt quasi zum ersten und interessantesten Akt des Langfilms „Beau Is Afraid“wurde: Dem nicht stattfindenden Besuch bei der Mutter.
Ein Sack voller Psychosen
„Beau Is Afraid“beginnt wie Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“(1979) mit der Geburt seines Protagonisten, natürlich aus dessen Sicht. Nach einem Zeitsprung von mehreren Jahrzehnten findet sich das Publikum in der Wohnung des ca. 50-Jährigen wieder. Er leidet unter Agoraphobie, weshalb das Verlassen des Apartmenthauses schier unmöglich erscheint. Die Außenwelt ist der Feind. Insgeheim erleichtert über das mysteriöse Verschwinden seines Koffers sowie Wohnungsschlüssels teilt er seiner Mutter telefonisch mit, dass er nicht zu ihr fliegen kann. Schuld kommt auf und sorgt für eine depressive Episode, die sein Psychiater noch anheizt, bevor er ihm ein richtig „cooles“neues Medikament verschreibt, was UNBEDINGT mit Wasser eingenommen werden sollte. Dieser Zwang führt Beau unter Angstzuständen in die gegenüberliegende Drogerie, ohne Schlüssel, ohne genügend Geld, und mit der Gewissheit, dass die lebensfeindliche Gesellschaft in sein Apartment eingezogen ist. Wenn sie ihm nicht gar im eigenen Bad auflauert, mordlüstern verfolgt, anfährt oder gefangen hält, führt Beau seine angsterfüllten Odyssee in sein tiefstes Unterbewusstsein, das ihm Antworten geben wird, über sein Verhältnis zur Mutter, sein bisheriges Leben, seine Zukunft, seine verpasste Liebe, seinen Vater und … seinen gigantischen Hodensack. Der Landvermesser in Franz Kafkas Romanfragment „Das Schloss“könnte kaum stärker umherirren und sich weiter vom Ziel entfernen, je näher er sich ihm glaubt …
Überambitioniert
Doch es gibt noch mehr Parallelen zu Kafka. Die Schuldfrage ist wie in „Der Process“ein Kernelement. Ohne zu wissen, weshalb er Schuld verspüren sollte, scheint Beau diesen von der Gesellschaft aufgedrückten Stempel mit der Zeit zu akzeptieren. Seine abgefahrene Reise mit alptraumhaften, surrealen „Der Zauberer von Oz“-elementen, bei denen das Publikum kaum noch zu unterscheiden vermag, ob es sich um einen Alptraum, eine Psychose oder eine zutiefst durchgeknallte Realität handeln soll, ist eine Ideen- und Hommage-reiche Tortur sondergleichen. Auch Joaquin Phoenix „Joker“-darstellung weist Parallelen zur toxischen Mutter-sohn-konstellation dieses Films auf. Phoenix glänzt hier ebenfalls mit einer überzeugenden Inszenierung eines gestörten wie bemitleidenswerten Charakters. Und natürlich spielt der tiefenpsychologische Horror eine große Rolle, weshalb das geschmacklose Monster-finale unausweichlich ist. Nachteilig ist in jedem Fall der lose, wenn nicht gar gekappte rote Faden, welcher im ersten Kapitel so verheißungsvoll aufgebaut wurde. Da wirkt sogar Orson Wells’ überlange Kafka-verfilmung „Der Prozess“(1962) stringenter als diese zusammenhangslose Farce. Statt Beau ist nun das ganze Publikum „afraid“und wünscht sich, dass Aster entweder andere Leute seine Drehbücher schreiben lässt oder selbst noch einmal einen Kurs für ökonomisches Erzählen besucht.
Überwältigt von seelischen Problemen begeht die Mutter von Michael (Keaton Tetlow) und Donna (Page Ruth) Selbstmord. Bereits vor ihrem Ableben holt Vater Richard (Nicholas Tucci) eine neue Frau ins Haus. Coral (Camilla Rutherford), mittlerweile selber schwanger vom Hausherren, nimmt die Mutterrolle der beiden Ziehkinder nicht an. Außerdem verhält sie sich merkwürdig: Während ihrer Ruhezeiten trägt sie eine Kosmetikmaske und zur gleichen Zeit geschehen seltsame Dinge.
Die Thematik der Maske, welche Regisseur Ben Charles Edwards und seine Co-autorin Nadia Doherty einführen, soll den Fremdkörper im Haus verdeutlichen, welche Coral für die Kinderfiguren symbolisiert. Hier ist die Wirkung vom Verlust der Mutter auf die Kinder ein übergreifendes Thema. Michael ist traumatisiert und malt seine Mutter in verstörend gruseligen Bildern. Donna geht auf einen rebellischen Pfad von Alkohol und Selbstzerstörung. Der Originaltitel des Films lautet „Father Of Flies“, was eine Abwandlung von „Father of Lies“darstellt, eine biblische Zeile, die auf Beelzebub anspielt. Ist Coral der Leibhaftige? Ist der Dämon, der mit ihr ins Haus zieht, ihr ungeborenes Kind? Es bleibt diesbezüglich vage. Auf der technischen Ebene bringt Kameramann John Bretherton mit verblassten Bildern die Tristesse des Alltags zum Vorschein. Dagegen ist beim Gruseln alles beim Alten: ein langer Spannungsaufbau und Jumpcuts würzen die stillen Momente. Dazu gesellt sich noch eine Fliegendämonin, die meist im Schatten bleibt und nicht zu viel von sich verrät. Michaels Kommunikation mit seiner toten Mutter erinnert stark an die ikonischen Momente in „Poltergeist“(1982).