Wie wilde Tiere
In den letzten zehn Jahren haben sich die Filmemacher Isabel Peña und Rodrigo Sorogoyen in der spanischen Filmszene einen Namen gemacht. Auch bis in unsere Lande sind ihre Werke vorgedrungen. Mit dem True-crime-thriller „Wie wilde Tiere“traten sie erst jüngst einen internationalen Siegeszug auf mehreren Filmfestivals an.
Basierend auf einer wahren Begebenheit, die sich in einem abgeschiedenen spanischen Dorf abspielte, handelt die Geschichte in „Wie wilde Tiere“von einem holländischem Pärchen, das sein Glück in der katalanischen Flora und Fauna sucht. Ein landwirtschaftliche Existenz wird hier angestrebt, fernab der Zwänge und des Trubels der Großstadt. Es kommt jedoch zu einem Streit mit den einheimischen Dorfbewohnern und im Januar 2010 verschwindet der Ehemann spurlos. Erst vier Jahre später gelingt die Aufklärung des Falls.
Fiktion und Wirklichkeit
Im Film werden nun aus den Holländern der realen Vorlage Franzosen gemacht. Marina Fois spielt die Ehefrau und Denis Ménochet ihren Mann Antoine. Wahrscheinlich wurde die Entscheidung dahingehend getroffen, da der französische Filmmarkt eine größere Reichweite besitzt. Der Regisseur Rodrigo Sorogoyen zeichnete sich zusammen mit seiner Ko-autorin Isabel Peña bereits für die Filme „Stockholm“(2013), „Die Morde von Madrid“(2016) und „Macht des Geldes“(2018) international aus. „Wie wilde Tiere“spielt genau wie ihre Serie „Antidisturbios – Bereitschaftspolizei“(2020) in der Mitte der Gesellschaft. Nur diesmal nicht in der Großstadt, sondern auf dem Land, ähnlich dem klassischen Hinterwäldler-horror, den einige Kritiker herauszulesen vermögen. Die Lücken bei der Recherche des Materials für das fertige Drehbuch wurden von dem Autorenpaar mit reiner Fiktion gefüllt. Der Plan zur Realisierung lag schon des Längeren auf dem Tisch. Nach eigenen Aussagen der beiden Filmemacher hatten sie bis zum jetzigen Zeitpunkt „noch viel Erfahrung zu sammeln“, um dieses Projekt zu realisieren.
Stadt, Land, Konflikt
Antoine (Denis Ménochet) und Olga (Marina Foïs) zieht es von der lärmenden Großstadt in die beschauliche Abgeschiedenheit der katalanischen Halbinsel. Hier in Galicien wollen sie ein neues Leben aufbauen und Tomaten züchten. Doch die Einheimischen, vor allem die Brüder Xan (Luis Zahera) und Lorenzo (Diego Anido) mögen ihre neuen Nachbarn nur wenig leiden. Vor allem Antoine, der eine Freundschaft mit ihnen aufbauen möchte, stehen sie abweisend gegenüber. Das mag der Situation geschuldet sein, dass sich Antoine und Olga, seit zwei Jahren eingetragene Bürger der Region, gegen den Bau von Windrädern in jener Gegend entschieden haben, um die Zivilisation nicht zu sehr an ihre kleine Farm herankommen zu lassen. Xan und Lorenzo dagegen bräuchten das Geld der Bauherren unbedingt der finanziellen Gründe wegen. Ihr bäuerliches Dasein und die Wildpferdezucht werfen nichts dergleichen ab. Der wahre Wert über das Dasein in der Abgeschiedenheit und die Vergötterung des ursprünglichen und „reinen“Landlebens hinterlässt seine Spuren in
der Handlung. Es gibt keine Bildung an diesem Ort und keine familiäre Zukunft. Dieser Umstand wird untermauert durch den Charakter Xan, der trotz gewisser Intelligenz kein Land für die eigene Existenz sieht.
Männlichkeitsrituale
Der originale Titel des Films, „As Bestas“, spielt auf die Wildpferde an, die sich in der spanischen Region tummeln, und auf das „Rapa des Bestas“(das Scheren der Bestien), einer umstrittenen Tradition, bei dem mit den Tieren gerungen wird. Das Schneiden der Haare entfernt den Pferden die Parasiten vom Leib. Die Vollzieher des Wildpferdetreibens nennt man Aloitadores, was spanisch für Kämpfer steht. Das äußerst körperlich betonte Ritual wird in der Eröffnungsszene präsentiert, ebenso wie im Finale des zweiten Aktes … während ein Verbrechen verübt wird. Olgas Mann ist kein allzu ansehnliches Exemplar. Antoine ist dicklich und hat es auch nicht so mit der spanischen Aussprache. Das Wiederum ruft den Zorn Xans hervor, der in dem harmonischem Treiben des übergewichtigen Franzosen und seiner Frau eine Störung in seinem Weltbild sieht. Neid macht die Runde: „Hier auf dem Land gibt es keine Frauen.“Schnell wird Antoine zum Außenseiter der (männlichen) Gemeinde abgestempelt und drangsaliert. Im dritten Akt reist die Tochter Marie (Marie Colomb) an. Gemeinsam mit ihrer Mutter möchte sie besagtem Verbrechen auf den Grund gehen. In der Folge kommt es zum Streitgespräch zwischen den beiden Frauen, über die Rolle der Mutter und ihre immerwährende Passivität.
Rhythmusprobleme
„Wie wilde Tiere“ist nicht für alle Zuschauergruppen geeignet. Es handelt sich hierbei um ein Kammerspiel von beinahe zweieinhalb Stunden. Die Geschichte braucht demnach etwa eine dreiviertel Stunde um zur ersten Spannungsspitze zu
gelangen. Dabei schreitet die Handlung in puncto Tempo äußerst gemächlich über die Bühne. Die Tatsache, dass die Tochter erst im dritten Akt dazustößt und dazu am Anfang noch eine zehnminütige Diskussion mit der Mutter entfacht, bremst den Erzählrhythmus gegen Ende hin zugegebenermaßen deutlich aus. Zu diesem Zeitpunkt ist Marie ein für die Zuschauerschaft noch unbeschriebenes Blatt und könnte ja erst einmal Sympathiepunkte sammeln.
In diesem Aspekt fehlt es den Filmemachern doch leicht an der handwerklichen Finesse eines David Fincher oder auch eines Christopher Nolan. Die Tochter schon vorher einzuspannen und den Tathergang in der Retrospektive zu erzählen, wäre hier möglicherweise eine bessere Wahl gewesen. Nichtsdestotrotz sind Prämisse, Szenario und Tathergang äußerst spannend dargestellt
und die Empörung über den sich aufbauenden Hass aufgrund der kulturellen Reibungsfläche ist dementsprechend groß. Das Hauptmenü der Blu-ray ist mit Bewegtbildern untermalt. In der Bonussektion gibt es ein komplettes Making-of des Films auf Spanisch (bzw. auf Französisch) mit deutschen Untertiteln. Die gesamte Dokumentation kommt auf über eine halbe Stunde.