Die schönsten Liebesromane
Mit 35 schrieb André Gorz bereits seine Autobiografie. Diese Selbsterforschung, 1958 als „Der Verräter“publiziert, verschaffte dem österreichischen Philosophen in Frankreich den Durchbruch. Dort lebte er mit seiner Frau Dorine, einer schönen Engländerin, die er während der Kriegsjahre in der Schweiz kennengelernt hatte. Frankreich war zu ihrer gemeinsamen neuen Heimat geworden.
50 Jahre später war Gorz zum vielgelesenen Sozialtheoretiker avanciert, war Mitbegründer der linken Wochenzeitschrift „Nouvel Observateur“. Seine leitende Stelle dort gab er auf, als Dorine nach einem ärztlichen Kunstfehler schwer am Rückenmark erkrankte. Fortan lebten sie nicht mehr im aufregenden Paris, sondern führten ein beschauliches Leben auf dem Land. Einfach nur zu zweit.
Mit 83 Jahren nimmt André Gorz sich die Zeit, einen Blick in seinen ersten Text, den „Verräter“, zu werfen. Bislang hatte er keine seiner Schriften nach der Veröffentlichung wieder gelesen. Handschriftlich hatte er Dorine eine Widmung ins Buch eingetragen: „Für Dich, Kay genannt, die Du mir das Ich gegeben hast, indem Du mich das Du entdecken ließest.“Ihre Liebe, ihre aufopfernde Unterstützung, ihr Mut, ihre Tatkraft, Klugheit und Zuversicht hatten ihn als Schriftsteller und Mann schließlich erst lebendig werden lassen. Doch er
André Gorz war einer der bedeutendsten Sozialtheoretiker des vergangenen Jahrhunderts. Zum 82. Geburtstag verfasste er einen Liebesbrief an seine Frau, der sich überraschenderweise um ein Vielfaches mehr als sein gesamtes Werk verkaufte.
stellte bestürzt fest: Im „Verräter“steht davon nichts. Ganz im Gegenteil.
Er beschließt, einen Brief an sie zu schreiben, eine Wiedergutmachung, eine Huldigung ihrer Liebe. André Gorz schreibt „Brief an D.“in rund zwei Monaten. Er erinnert sich, dass er damals – noch vor seinem Erfolg mit dem „Verräter“– wie besessen an einem Manuskript gearbeitet hatte, einsilbig und ganz ins Theoretisieren vertieft, hatte er das Schreiben über alles gestellt. Der Text wurde nie veröffentlicht. Eine Trennung stand vage im Raum. Sie wollte fortgehen. Diese Szene entstellte er im „Verräter“. Warum nur, fragt er sich nun im Brief, bezeichnete er sie als beklagenswert und einsam, obwohl sie es war, die mit aller Kraft das Geld verdiente, seine Arbeit begleitet hatte und Ansehen in einem großen Freundeskreis genoss. Freunde überredeten ihn dazu, den Brief zu veröffentlichen; und er verfügte zudem, dass von 2006 an in jeder Neuerscheinung des „Verräters“eine Nachbemerkung eingefügt wird, die Auszüge aus „Brief an D.“enthält.
Dieses kleine Stück Privatheit, das nun öffentlich geworden war, verkaufte sich innerhalb kurzer Zeit um ein Vielfaches mehr als Gorz’ gesamtes philosophischpolitisches Werk. Journalisten machten sich auf den Weg ins französische Dörfchen Vosnon, um das Ehepaar zu interviewen.
So auch Elisabeth von Thadden von der „Zeit“. Sie sprach mit den Liebenden, stellte die Fragen, die der diskret gehaltene Brief offen ließ. Fragen nach ihrer Kinderlosigkeit, dem Rezept der steten Liebe, ewiger Treue. „Wenn alles zur Ware wird und alles technisch bestimmt“, zitiert von Thadden den Philosophen der Arbeitsgesellschaft, „dann sei das Gefühl, das dauert, das Kostbarste. Der Gedanke, ihr untreu zu sein, sei ihm nicht gekommen.“
Am 22. September 2007 entdeckten Freunde eine Notiz an Gorz’ Haustür. Man möge die Polizei verständigen. André Gorz und Dorine lagen Seite an Seite. Seit ihrem Freitod gewinnt die letzte Zeile aus „Brief an D.“noch zusätzlich prophetische und auch tröstliche Kraft: „Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.“