MADELEINE THIEN
Sag nicht, wir hätten gar nichts
Übersetzt von Anette Grube
Madeleine Thien, kanadische Schriftstellerin mit chinesisch-malaiischen Wurzeln, spannt einen weiten Erzählbogen über zwei chinesische Familien und drei Generationen, der von den 1940er-Jahren bis in die Gegenwart reicht. Denn es ist Marie im Jahr 2016, die auf diese Spurensuche geht, weil sie nie verstanden hat, warum ihr Vater sie als 10-Jährige verließ. Überhaupt sind es die Frauenfiguren in diesem Roman, die aktiv werden, forschen oder ausbrechen – wie die junge Ai-ming, die kurze Zeit bei Marie und ihrer Mutter wohnt, weil sie nach den Studentenprotesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens fliehen musste. Im Mittelpunkt stehen jedoch der Komponist Sperling, Ai-mings Vater, und sein Schüler Jing Kai, der Vater von Marie. Die beiden eint ihre Liebe zu den großen klassischen Komponisten der westlichen Welt, doch während Sperling verstummt und sich in sein Arbeiter-Schicksal fügt, wird Jing Kai zum Rotgardisten, um seine Pianistenkarriere weiterzuverfolgen. Durch Thiens empathische Sprache werden die seelischen Nöte, alltäglichen Sorgen und zutiefst menschlichen Sehnsüchte dieser beiden Musiker-Großfamilien in den grausamen ideologischen Umwälzungen der Kulturrevolution schmerzlich spürbar. (ts)
LUCHTERHAND, 656 Seiten, 24 Euro
Vielstimmiges Epos über die Grausamkeiten der Kulturrevolution, die in Familientraumata bis heute fortwirken.