UNTER UNANGENEHMEN LEUTEN
Kaum eine Autorin durchleuchtet die deutsche Gesellschaft so wie die promovierte Juristin Juli Zeh. Nach ihrem Gesellschaftsroman „Unterleuten“folgt jetzt ein Politthriller, der die gegenwärtige
Entwicklung zum Rechtspopulismus in einer düsteren Zukunft zeigt.
Juli Zeh sitzt im Restaurant des aufwendig restaurierten Landguts Stober, ein Ziegelbau mitten im Havelland in Brandenburg. Seit fast zehn Jahren lebt die 43-jährige Juristin und Autorin hier draußen mit Mann und zwei Kindern in einem Bauernhaus. Die Alleebäume haben wirklich nach außen gebogene Stämme, so wie sie es in ihrem Gesellschaftsroman „Unterleuten“beschreibt. Ein Jahr lang stand er auf der Bestsellerliste, jetzt ist er als Taschenbuch erschienen. Mit dem Erfolg kamen auch Fremde, die am Zaun standen oder durchs Küchenfenster starrten. Seitdem einer der Literatur-Touristen plötzlich im Hausflur stand, hält die Bestsellerautorin ihre Adresse geheim. Ihr neues Buch „Leere Herzen“, ein brisanter Politthriller, spielt im Deutschland der nahen Zukunft.
Frau Zeh, rechtspopulistische Parteien haben allerorten Konjunktur. In Ihrem neuen Roman „Leere Herzen“regiert Kanzlerin Merkel nicht mehr, stattdessen ist die rechtspopulistische BBB, die „Besorgte Bürger Bewegung“, an der Macht. Halten Sie dies für ein realistisches Zukunftsszenario?
Es geht mir nicht um Prognosen, sondern um die Zuspitzung eines Dilemmas, in dem wir uns heute befinden. Der Rechtspopulismus ist in vielen Parlamenten eingezogen, jetzt sitzt auch die AfD im Bundestag. Das ist der neue Status quo. Wir haben eine verwirrende, politische Gemengelage, in der viele Menschen nach Orientierung suchen. Das führt dazu, dass manche Leute dankbar der AfD oder einem Trump hinterherrennen. Populisten sind große Vereinfacher. Im Chaos und der Komplexität des Lebens stellen sie vermeintliche Leuchtsterne dar.
Ihr Buch liest sich wie eine satirische Zukunftsvision und wirft zugleich ein erhellendes Licht auf unsere gegenwärtige Gesellschaft. Das vorangestellte Motto lautet: „Da. So seid ihr“. Zählen Sie sich nicht dazu?
Das plakative Motto ist eine bewusst gesetzte Provokation. Das „Ihr“ist ein „Wir“, zu dem auch ich gehöre. Mein Roman dreht sich um eine Frage, die mich auch schon in meinen vorhergehenden Büchern beschäftigt hat: Inwieweit sind wir überhaupt noch fähig und in der Lage, Verantwortung zu übernehmen? Beschäftigen wir uns nur noch mit uns selbst, oder gibt es noch so etwas wie ein gesellschaftliches Bewusstsein?
Ihre Hauptfigur Britta betreibt ein zynisches Geschäft mit dem Tod. Sie hat eine Agentur, die gewinnbringend Selbstmordattentäter vermittelt. Ist Ihnen diese Frau sympathisch?
Die Agentur, die Menschen in den Märtyrertod schickt, ist natürlich eine Überzeichnung. Aber Britta ist ein ambivalenter Mensch. Sie steht mir – wie all meine Figuren – sehr nahe. Sie tut mir sogar leid.
Wieso das?
Britta steckt in einem moralischen Dilemma. Meine Romanfigur weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch Werte gibt oder alles verhandelbar und damit auch kommerzialisierbar ist. Sie befindet sich in einer moralischen Pattsituation und steht prototypisch für unsere Epoche.
In einem Ihrer Essays heißt es: „Wir leben in krassen Umbruchzeiten, aber ich denke, dass alles besser wird.“Das ist jedoch ein eher trister Blick auf die Zukunft.
Finden Sie? Am Ende übernimmt meine Heldin doch Verantwortung und erkennt, dass Menschlichkeit die Orientierung sein muss, auch in unübersichtlichen Zeiten.
Dennoch: Andere Ihrer Romanfiguren ziehen sich völlig ins Privatleben zurück. Sie gehen nicht zur Wahl, da Politik wie das Wetter sei: „Sie findet statt, ganz egal, ob man zusieht oder nicht, und nur Idioten beschweren sich darüber.“Eine düstere Diagnose.
Die zutrifft. Viele Menschen gehen nicht zur Wahl. Auch Brittas Freundin Janina entspricht dem Zeitgeist: Sie ist eine Abtaucherin, die sich in die romantisch-biedermeierliche Vorstellung vom guten Leben auf dem Land zurückzieht. Ihr Lebensmotto und das ihrer Freunde ist: Wir ernähren uns gut, wir leben gesund. Es gibt die Finanzkrise, den Brexit und Trump, es gibt Flüchtlingswellen. Wir wissen überhaupt
nicht mehr, wie wir uns zurechtfinden sollen, und interessieren uns nur noch fürs Marmelade-Einkochen, für unseren Bonsai, unsere Kinder und unseren offenen Kamin. Wir genießen das Leben, solange es noch geht. Ansonsten Scheuklappen und das Gefühl: Wir rasen alle in den Untergang und können eh nichts dagegen tun.
„Jetzt nutze ich MEINE STIMME ALS AUTORIN,
um mich politisch einzubringen.“
Sie sind eine engagierte und streitbare Autorin, die sich politisch einmischt. Kennen Sie selbst dieses Gefühl von Ohnmacht?
Klar, ich hätte dieses Buch nicht geschrieben, wenn es nichts mit mir zu tun hätte. Spätestens seit Trump und dem Brexit stehe ich unter Schock. Und ich verstehe jeden, der sagt: „Leute, ich werde jetzt Privatier.“
Sie ziehen sich nicht zurück, Sie vertreten klare Positionen in Essays …
… ich habe im letzten Jahr keinen nennenswerten Essay mehr geschrieben, das ist schon ein Ausdruck einer inneren Blockade.
Aber Sie mischen sich nach wie vor ein in politische Debatten. Im Zuge der NSA-Affäre haben Sie mit anderen Schriftstellern einen weltweiten Aufruf gegen Massenüberwachung organisiert und sich im Wahlkampf für den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz engagiert. Wie sehen Sie Ihre Rolle als Autorin in der Gesellschaft?
Ich war schon immer ein politisch interessierter Mensch. Jetzt nutze ich meine Stimme als Autorin, um mich politisch einzubringen.
Sie treten auch in Talkshows auf. Bringen diese Quasselrunden überhaupt etwas?
Auf jeden Fall. Das weiß ich durch das Feedback, E-Mails, die ich nach den Sendungen bekomme. Sicher wird oft gelabert und gern mitten in den Satz des Anderen reingegrätscht. Aber man kann ja die Gesprächskultur verbessern, indem man sich nicht an dem rüpelhaften Niederschreien oder dem Parolensprech vieler Politiker beteiligt, sondern versucht, ein inhaltlich interessantes Gespräch zu führen.
In dem Zusammenhang haben Sie mal gesagt, wenn Sie die Wahl hätten, wären Sie lieber ein Mann.
Dann wäre mein Leben einfacher. Es ist nach wie vor so, dass man als Frau im Medienbetrieb einen gewissen Exotenstatus hat. Vor den Talkshows gibt es immer diese kleinen Empfänge, wo der Moderator kurz vorbeischaut und sagt: „Schön, dass ihr da seid!“Ich stand in einer Runde von Männern, dann kam der letzte Gast, begrüßte alle mit Handschlag und sagte zu mir: „Ich hätte gern eine Cola.“Seine Haltung war: Alles, was weiblich und unter 60 ist, gehört zum Service-Personal.
Vor knapp zehn Jahren sind Sie von der
Stadt Leipzig aufs Land gezogen. Sie leben hier sehr abgeschieden.
Diese Einsamkeit und Stille im Havelland schätze ich sehr. Auf der anderen Seite mag ich die Art von Kontakten hier. Das Tolle an einem Dorf ist, dass ich mir die Bewohner nicht ausgesucht habe. Als ich in der Stadt wohnte, habe ich mich in einer Art Blase bewegt. Meine Freunde waren Akademiker wie ich. Wir dachten dasselbe, teilten dieselbe politische Meinung, die wir abends in der Kneipe austauschten. Auf dem Land sind die Menschen vom Schicksal zusammengewürfelt, gerade hier in Brandenburg, aufgrund der sehr bewegten deutschen Geschichte.
Die auch Thema Ihres großen Gesellschaftsroman „Unterleuten“ist: Ossis und Wessis, die alten Kommunisten und die neuen Glücksritter treffen aufeinander. War das reale Leben Ihrer Dorfgemeinschaft Vorbild für Ihre Romanfiguren?
Sicher. Aber natürlich tauchen meine Nachbarn nicht eins zu eins in meinem Buch auf.
Wie haben Ihre Nachbarn auf Ihre „Unterleutner“reagiert?
Na ja, meine Nachbarn lesen nicht.
Wie bitte?
Die Leute in unserem Dorf lesen vielleicht mal die lokale Zeitung. Aber keine Bücher und schon gar keinen 600 Seiten Schmöker. Ausgeschlossen. Ich meine das in keiner Weise despektierlich, es ist einfach eine Tatsache. Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten. Ich kann beispielsweise keinen Traktor reparieren, das hingegen kann mein Nachbar.
Im Winter leben Sie auf Lanzarote. Was zieht Sie dorthin?
Das Klima. Die Winter hier draußen sind schon sehr hart. Es ist ein bisschen so wie vor 200 Jahren, das Leben spielt sich nur noch unter der Küchenlampe ab, es gibt ja kein Theater oder Cafés wie in der Stadt.
Lanzarote ist eine eher karge Insel, geprägt vom schwarzen Vulkanstein.
Eben diese Kargheit reizt mich. Ich mag es, wenn mich die Landschaft in Ruhe lässt. Ich brauche keine Stimulation von außen, ich lebe in meinen eigenen Welten. Wobei ich es faszinierend finde, dass Lanzarote erdgeschichtlich von einer Zeit erzählt, als es den Menschen noch gar nicht gab. Da stehe ich vor so einem Vulkan und denke: „Wie wichtig bin ich denn eigentlich angesichts von Millionen Jahren Erdgeschichte, als es keine Säugetiere geschweige denn Menschen gab?“Das setzt einen wieder ins Verhältnis und relativiert das aufgeblasene Bedeutsamkeitsego, das wir ja alle haben.
Sie und Ihr Mann sind Sporttaucher. Wie sind Sie dazu gekommen?
Wir haben mit dem Tauchen gemeinsam vor zehn Jahren angefangen. Dabei war mein Mann die treibende Kraft. Viele Männer fahren wahnsinnig aufs Tauchen ab. Meine Theorie ist, weil sie dort unten nicht reden müssen.
Was fasziniert Sie am Tauchen?
Fremder als in der Unterwasserwelt kann man sich nicht fühlen, außer vielleicht im Weltraum. In 40 Meter Tiefe merke ich, wie klein unser Radius ist, wie abhängig wir sind von der Luft zum Atmen und von der Schwerkraft. Wenn uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dann sind wir niemand mehr. Das Tauchen reduziert einen auf die nackte Existenz. Das ist sehr heilsam. Aber auch angsteinflößend.
Ihr Mann, David Finck, ist auch Schriftsteller. Sie stehen mit Ihren Büchern auf den ersten Plätzen der Bestsellerlisten und haben weitaus höhere Auflagen als er. Wie geht er mit Ihrem Erfolg um?
David hat die unschätzbare Gabe, sich nicht mit anderen Menschen zu vergleichen. Wenn er unglücklich ist, dann schafft er das allein. Und wenn er glücklich ist, auch. Wenn mein Mann erfolgreicher wäre als ich, wäre es sicherlich schwieriger für mich.
Sie haben Nelson, einen fünfjährigen Sohn, und Ada, eine zweijährige Tochter. Kümmert sich Ihr Mann um Ihre Kinder, wenn Sie unterwegs sind?
Klar. Aber ich versuche, so gut ich kann, 50 Prozent von dem Haushalt und den Kindern zu schaffen. Allerdings übernimmt mein Mann phasenweise mehr.
Mussten Sie bei Ihrem Mann Überzeugungsarbeit leisten?
Nein. Ich bin ja zurzeit die Alleinverdienerin in unserem Haushalt, da geht es nicht anders. Aber ich glaube schon, dass es für ihn nicht immer leicht zu tragen ist, wenn er die unerfreulichen Seiten meines Erfolges abkriegt: dass ich tagelang weg oder manchmal total gestresst bin.
Tauschen Sie sich über Ihre Arbeit aus?
Wir arbeiten intensiv zusammen, mein Mann ist immer der Erste, der meine Texte liest. Mir ist Davids Einschätzung ungeheuer wichtig. Manchmal sagt er mir, dieses Kapitel würde ich streichen, oder jene Figur finde ich unglaubwürdig. Das ist natürlich ein K.-o.Einwand, denn dann bricht alles in sich zusammen. Ich sitze danach Monate am Schreibtisch und überarbeite den kompletten Text.
Als zehnjähriges Kind haben Sie das Regal in Ihrem Zimmer weggerückt und Dielenbretter aufgesägt, um darunter Ihre Tagebücher zu verstecken, damit sie keiner liest.
Das Loch ist heute noch im Holzboden meines früheren Jugendzimmers in Bonn.
Sie haben in einem Essay geschrieben, dass es Ihnen peinlich sei, gelesen zu werden: „Ich empfinde dabei vermutlich die gleiche Scham vor fremden Blicken wie andere beim Sex.“Das geht mir nach wie vor so. Der Sprung zwischen Schreiben und Veröffentlichen ist für mich ein wahnsinnig großer. Eigentlich schreibe ich nur für mich.
Andere Autoren freuen sich, wenn Sie möglichst viele Leser haben. Sie nicht?
Doch. Aber gleichzeitig habe ich Angst davor. Es sind sehr persönliche, intime Angelegenheiten, die ich formuliere. Es ist, als ziehe man sich aus und stehe nackt da. Als Ihre Kommilitonen Ihre Texte im Leipziger Literaturseminar zerpflückten, hatten
Sie das Gefühl, gehäutet zu werden. Zu Ihrem Roman „Schilf“schrieb der Rezensent eines angesehenen, überregionalen Feuilletons, Ihr Roman sei eine „bis ins Hanebüchene gehende Konstruiertheit des Geschehens“. Wie gehen Sie heute mit Verrissen um?
Ich stelle mir vor, wie ich den Kritiker schlage, foltere, umbringe. Nein, im Ernst: Ich habe nichts gegen Literaturkritik. Aber ein Urteil sollte sachlich und nicht beleidigend sein.
Martin Walser hat sich mit seinem Roman „Tod eines Kritikers“am Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki gerächt.
Ich kann die Verletztheit und Wut Walsers verstehen. Aber eine Fehde mit einem Kritiker auszufechten, wäre mir zu anstrengend und auch die Sache nicht wert. Letztlich gehört das Buch dem Leser. Und diese Beziehung kann kein Kritiker stören.