ALLES FAMILIE?!
Mama + Papa + Kind = Familie? Durchaus, aber dass die Gleichung längst nicht mehr so einfach aufzustellen ist, würde wahrscheinlich schon die Befragung in wenigen Klassenzimmern beweisen. Patchwork- und Regenbogenfamilien, Alleinerziehende, Pf legeeltern und soziale Elternschaft – die Formen des Zusammenlebens sind vielfältig.
Die traditionelle Familie ist keinesfalls ein Auslaufmodell, aber nur eine von vielen Möglichkeiten. Da stellt sich die Frage, ob das literarische Familienbild diesen Lebensrealitäten entspricht. Erfreulicherweise bezeugen viele aktuelle Verlagsprogramme einen offenen und zeitgemäßen Blick auf Familienwelten und so werden diese mittlerweile vielfältig verhandelt, mal im Fokus, mal in aller Beiläufigkeit.
Als kleinste Zelle der Gesellschaft gilt die Familie als Ort der Geborgenheit und des Zusammenhalts. Aber gerade der Familien-Prototyp, die Ehe mit Kind(ern), funktioniert nur bedingt. Mehr als 130 000 Scheidungskinder stehen pro Jahr vor neuen Familienkonstellationen – nicht mitgezählt die unverheirateten Paare. Wie es sich für Kinder anfühlt, wenn sich Familienbande lösen, daran waren der Fotograf Jan von Holleben und der Familienpsychologe Arne Jørgen Kjosbakken interessiert und entwickelten ein Workshop-Konzept für Trennungsfamilien. Über ein Jahr trafen sie sich mit Kindern zwischen fünf und 13 Jahren und ihren Familien und erarbeiteten Themen, die in dieser Lebenssituation für alle schwierig sind, so eben Und was wird jetzt aus mir? sowie viele weitere alltagsnahe Fragen. Neben ganz praktischen Tipps wird in dem Ratgeber vor allem eine Botschaft vermittelt: Du, als Kind, hast
nichts falsch gemacht. Verantwortung und Lösung des Problems liegen bei den Erwachsenen. Es gibt kein Zurück, aber deine Familie kann anders aufgestellt eine schöne Zukunft gestalten.
Wer wohnt bei wem und wo, ist sicher eine der heikelsten Fragen in Patchwork-Familien. Auch das erzählende Kinderbuch widmet sich vielfach diesem Thema. Mit einer erfrischenden Idee wartet Wir 7 vom Reuterkiez von Anne C. Voorhoeve auf: die Kinderwohnung! Die Geschwister Pia und Jonas bleiben in ihrer vertrauten Umgebung, sollen doch die Problemverursacher a. k. a. Eltern mit den Konsequenzen der Scheidung klarkommen. Weiterhin gilt: Neue Partner haben in der Kinderwohnung nichts zu suchen, so die von den Eltern eigens aufgestellte Regel, die bald schon zu neuen Problemen führt. Den Fakt, dass dieses Modell nur für finanziell besser gestellte Familien funktioniert, blendet das Buch ehrlicherweise nicht aus. Parallel zu den Geschehnissen rund um den neu zu organisierenden Familienalltag werden urbane Themen wie Gentrifizierung und Mieterverdrängung durchaus spannend verpackt – wohl in einem etwas fragwürdig zugespitzten multikulturellen Großstadtleben.
Trennungskind Pippa dagegen muss pendeln. Sie schreibt und zeichnet ein Tagebuch, um sich „in dem gnadenlosen Chaos zurechtzufinden, das ihre Eltern aus ihrem Leben gemacht haben“. Mit ihrer Schwester wechselt sie nach einem ausgeklügelten System zwischen dem rustikalen Bauernhof ihrer planlosen Mutter und dem schicken City-Apartment ihres pedantischen Vaters. Zwar sind die Gegensätze dieser beiden Welten grenzwertig schwarz-weiß geraten, dafür veranschaulichen sie Pippas Hin und Her umso deutlicher, wobei Pippa ein gutes Gespür für Grauzonen hat. Bei aller Kompliziertheit hat sie die Möglichkeit, sich auszuprobieren. Dafür erfindet Barbara Tammes nicht nur ein breites Spektrum an klassischen (Ponys) wie zeitgeistigen (Vlogging) Interessen, sondern auch eine erfrischende Denke und witzige Sprache.
FAMILIEN BUNT WIE EIN REGENBOGEN
Tagebuchaufzeichnungen sind ein beliebtes Erzählmittel, um authentisch aus der Erlebniswelt von Kindern und Jugendlichen zu erzählen. Auch Nikola Huppertz greift auf diesen Kniff zurück, um Mein Leben, mal eben bzw. das der 13-jährigen Anouk vorzustellen. „Damals, mit fünf, sechs Jahren, hab ich keine Sekunde darüber nachgedacht […] über MaMi und die Sache, dass sie meine Mutter ist, obwohl ich nicht in ihrem Bauch war […], und dass all das überhaupt eine Rolle spielt, wenn nur das Liebhaben stimmt.“So formuliert es
Wer ist meine Familie? Auf je zwei quirligen Doppelseiten haben Eltern, Geschwister und (Wahl-)Verwandte Platz für Eintragungen, Fotos und Kommentare zu ihren Lieblingsliedern, Traumberufen und vielem mehr. Wie ein Freunde-Buch wandert es durch die ganze Familie. Und mit demselben charmanten Strich hat Marie Geisler ebenfalls einen Wandkalender gezeichnet, der die ganze Familienbande bestens organisiert durch das ganze Jahr bringt.
Anouk, die mit zwei Müttern zusammenlebt. Regelmäßig kommt Phillip, bester Freund von MaMi und Matrix sowie Anouks biologischer Vater, zu Besuch. Alles bestens, doch Anouk ist sich durchaus bewusst, dass ihre Familie für viele Menschen ein Aufreger ist. Wie sie deshalb versucht, sich allerorten anzupassen, um final zu begreifen, dass sie und ihre wunderbare Familie genauso stimmen, wie sie sind, hat Nikola Huppertz emotional wie spannend aufgeschrieben.
Wie wichtig es ist, im Kinder- und Jugendbuch Regenbogenfamilien gleichberechtigt abzubilden, zeigte sich vor einigen Monaten, als im Bundestag endlich die Entscheidung zur Ehe für alle getroffen wurde. Der Gesetzesbeschluss, der es gleichgeschlechtlichen Paaren nicht nur ermöglicht zu heiraten, sondern auch Kinder zu adoptieren, wackelte gehörig am Familienbild der Ewig-Gestrigen. Muss also im Jahr 2017 wirklich noch um Deutungshoheiten zum Thema Familie gestritten werden? Leider ja!
Und man kann selbstverständlich auch jüngeren Kindern in aller Vielfalt von Familien erzählen. Voilà: Die verflixten Fletcher Boys. Im ersten Band stellte Dana Alison Levy die Fletchers vor: Papa und Dad, Sam, Eli, Jax, Frog, zwei Katzen und ein Hund, die in großer Harmonie leben – so weit das bei vier sehr unterschiedlichen Brüdern der Fall sein kann. Im zweiten Band fahren die sechs „Männer“samt Haustieren in die Ferien und verteidigen ihren heißgeliebten Leuchtturm. „Die Fletcher Boys“sind ein herrlich witziger Familienspaß, der ohne Problemfokus von Regenbogenfamilien und Adoption erzählt. Das ist in seiner Beiläufigkeit ausgesprochen wohltuend – und warum eben auch nicht. Das darf, das muss so erzählt werden, um gerade jüngeren Kindern ein Selbstverständnis für vielfältige Familienformen zu vermitteln.
Für jugendliche Leser/innen erzählt T. A. Wegberg in Meine Mutter, sein Exmann und ich aus der Perspektive von Joschka, dessen Eltern schon seit einiger Zeit getrennt leben. Er ist zehn Jahre alt, als seine Mutter offenbart, dass sie zukünftig als Mann leben möchte. Während Joschkas Zwillingsschwester mit großer Neugier und Empathie reagiert, fühlt Joschka sich verraten. Auch mit 15, als aus Mutter Frederick geworden ist, kann der Junge kaum gelassen mit der Situation umgehen. Wie Joschka lernt, die Entscheidung seiner Mutter zu akzeptieren, ist eindrücklich und in glaubwürdig jugendlicher Sprache erzählt. Ein wenig dringt der Grundton des Vermitteln-Wollens der Transgender-Thematik durch die Geschichte – aber warum auch nicht! Bei aller Fortschrittlichkeit – noch vor wenigen Jahren wäre ein solcher Titel in einem großen Publikums-Verlag kaum denkbar
gewesen – ist es notwendig, den gleichzeitig stattfindenden Backlash im Auge zu haben. Zunehmend werden (wieder) konservative Stimmen laut, für die queere Lebenswelten und Familien keinesfalls selbstverständlich sind. Der französische Autor Christophe Léon greift diese Problematik in Väterland auf und erzählt eine düstere Dystopie, die deutlich an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert. Das schwule, sehr erfolgreiche Künstlerpaar Phil und George lebt mit der adoptierten Tochter im Herzen von Paris. Die immer harscher vorgehende Regierung zwingt die Familie, mit vielen anderen Homosexuellen in einem Ghetto zu leben. Als sich die Väter verbotenerweise ins Stadtzentrum wagen, beginnt eine gnadenlose Jagd. In verdichteter Sprache und einem beeindruckenden Spannungsbogen, der erschreckend plausibel historische Parallelen zieht, eignet sich „Väterland“bestens als Schullektüre. Dabei könnte es die Geschichte einer geglückten Adoption und der Liebe dreier vom Leben zusammengeführter Menschen erzählen. Familien finden sich nun mal nicht immer auf biologischem Wege.
Von solcher Erkenntnis weiß auch das turbulent erzählte Jugendbuch No. 9677 oder Wie mein Vater an fünf Kinder von sechs Frauen kam
von Natasha Friend zu berichten – wobei die Familienangelegenheiten hier ganz anders liegen. Hollis und Milo haben zwar einen gemeinsamen Vater, wurden aber in einer Petrischale gezeugt und sind getrennt voneinander aufgewachsen.
DIE ABWESENHEIT VON ELTERN
Es ist vor allem Milo, den die Suche nach seinem Vater umtreibt. Dass er unverhofft noch drei weitere „Spendergeschwister“findet, wird nach einigem Zögern auch für Hollis zur Bereicherung. Für die fünf Jugendlichen spielt die Identität ihres Erzeugers eine ganz unterschiedliche Rolle. Was am Ende aber vor allem zählt, und das ist bei allem Tiefgang leichtgängig und humorvoll aufgeschrieben, ist der besondere Zusammenhalt dieser frisch gebackenen Mega-Familie – mit wie vielen Vätern und Müttern auch immer.
Auch in Alexa Hennig von Langes Mein Sommer als Heidi schimmert die Sehnsucht nach einer intakten Familie durch den Text. Dreh- und Angelpunkt, so wird sich zeigen, ist zwar in gewissem Sinne der Vater, gleichzeitig geht es um ein klassisches Thema der Kinderliteratur: Wie komme ich ohne meine Eltern zurecht? Islas alleinerziehende Mutter hat die in ihren Augen fabelhafte Idee, auf Ibiza neu zu starten. Um dies vorzubereiten, parkt sie das Mädchen beim Großvater in den Schweizer Alpen. Aus den geplanten zwei Wochen werden mehrere Monate, in denen die Mutter unerreichbar verschwindet. Ein Albtraum für Isla. Dank der Fürsorge des Großvaters, neuer Freunde, ja irgendwie des ganzen Dorfes, findet Isla alias Heidi dennoch eine Art Zuhause. Das zeugt vor allem von Islas starkem Charakter, der von der Autorin beeindruckend gezeichnet ist, sodass einem das Mädchen in seiner tapferen Durchhaltekraft regelrecht ans Herz wächst.
Manchmal ist eine modellierte Wunschfamilie mit liebevollen Wahlverwandten eben die beste, ganz sicher sogar in Der Himmel über Appleton House von S. E. Durrant. Die Geschwister Zac und Ira wünschen sich nichts anderes. Seit jeher wandern sie von einer Pflegefamilie zur nächsten, bis sie nach Skilly, einem Londoner Kinderheim, kommen. Dort entsteht eine Art Ersatzfamilie, die sich stetig in Auflösung befindet. Andere Kinder kommen und gehen, Zac und Ira bleiben. Als die beiden eine Ferienwoche bei der pensionierten Lehrerin Martha verbringen, öffnet sich nicht nur die Tür zum verwunschen schönen Appleton House, sondern auch die Möglichkeit auf ein Zuhause – auch das ist Familie, ein Ort des Aufgehobenseins. Wie die Geschwister mit großem Wünschen und Wollen nach Zugehörigkeit suchen, hat S. E. Durrant in ihrem Debüt derart anrührend beschrieben, dass man die Kinder am liebs- ten selbst aufnehmen würde. Das Szenario einer Pflegefamilie beschreibt auch Martha Heesen in Mein Bruder, die Neuen und ich eindrücklich. Sie wählt die sozusagen spiegelverkehrte Erzählperspektive: Toon und Jan sind die leiblichen Kinder ihrer Eltern, aber die Familie bekommt regelmäßig Zuwachs. Die Eltern nehmen Kurzzeit-Pflegekinder auf, „das bedeutet, dass hier oft Kinder wohnen, bei denen zu Hause irgendwas Schlimmes ist. Manchmal bleiben sie Monate, manchmal nur ein, zwei Tage“, so erklärt es Toon, der in sechs Kapiteln von dem nicht einfachen Zusammenleben in immer neuen Konstellationen erzählt. Was für die Eltern klare soziale Verantwortung ist, fordern sie von ihren Kindern ein. Während der ältere Jan vorwiegend abwiegelt, lässt sich Toon mit viel Einfühlungsvermögen auf die Übergangsgeschwister ein – aber bei aller Empathie, manchmal wünscht er sich doch die volle Aufmerksamkeit der Eltern. Es ist, was es ist – eine besondere Familie, so gut wie jede andere!
Melike Çınar, die als Bildungsreferentin für inklusive Eltern- und Familienbildung beim Paritätischen Bildungswerk täglich sowohl mit Familien als auch mit Kinderbüchern zu tun hat, fasst es folgendermaßen zusammen: „Kinderbücher, die nur die bestehende Norm reproduzieren, erzeugen Leerstellen. Einerseits verletzt es Kinder, das Gefühl zu haben, sie und ihre Familien seien nicht normal. Andererseits ist es unfair, Kindern die Vielfalt des Lebens vorzuenthalten. Durch Leerstellen lernen sie, dass es Menschen gibt, die nicht dazugehören. Wir bringen Kindern durch das, worüber wir schweigen, genauso viel bei, wie durch das, was wir sagen.“In diesem Sinne wünschen wir uns weiterhin Bücher wie die hier vorgestellten, auf dass sich viele Kinder und Jugendliche mit ihren Lesewelten identifizieren können, sich für andere wiederum neue Realitäten eröffnen.