PLACEBOS nutzen das Gedächtnis des KÖRPERS
hier sehe ich auch ihr Einsatzgebiet. Umgekehrt können sie ihre Heilkraft aufgrund negativer Erwartungen herabsetzen und das Auftreten von Nebenwirkungen steigern. Dann spricht man von einem Nocebo-Effekt“, sagt die Forscherin.
Beipackzettel können die Wirkung von Medikamenten beeinflussen
„Lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“Dieser Rat ist sicherlich gut gemeint. Ginge es nach Schmerzexpertin Bingel, würde man die Beipackzettel der Medikamente jedoch umschreiben oder sie gleich weglassen und durch eine ärztliche Aufklärung ersetzen, weil es sich eher um eine juristische Formalität als um eine wichtige Information handelt. „Beipackzettel sind ein Quell negativer Information, ohne diese für den Patienten angemessen mit den erzielten Wirkungen einer Therapie zu gewichten. Auf dem Papier steht nicht: ,Dieses Medikament verhindert jeden zehnten Herzinfarkt oder wird überwiegend gut vertragen.‘ Im Gegenteil, auf drei Seiten wird mit Wahrscheinlichkeiten angegeben, was alles an unerwünschten Wirkungen auftre
ten kann. Manchmal findet man nicht mal seine Erkrankung darin. Das verunsichert. Deshalb ist es wichtig, dass Ärzte ihre Patienten auf die gewünschten Effekte und auf die Ziele der Behandlung hinweisen“, erklärt Expertin Bingel. Es gibt Epilepsie-Mittel, die wirken bei Migräne; Antidepressiva helfen auch bei bestimmten chronischen Schmerzen: „Es sind bewährte Mittel, das steht aber nicht im Beipackzettel, deshalb lehnen manche Patienten das eigentlich wirksame Medikament ab, weil sie denken, der Arzt will einem ‚nur‘ Psychopharmaka verschreiben“, sagt Schmerzforscherin Bingel, die viel mit Patienten spricht und die Medikamentenwirkung auch gerne in kleinen Skizzen illustriert.
Ein gutes Verhältnis zwischen Patient und Arzt unterstützt nachweislich die Heilung
Ein wichtiger Aspekt bei jeder Behandlung: Je besser die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist, desto mehr Vertrauen haben die Patienten in ihre Genesung. Fühlen wir uns mit unserem Leiden gesehen und verstanden, stehen die Chancen gut, dass wir auf Medikamente und Methoden ansprechen, die uns empfohlen werden. Ein Effekt, der bei alternativen Heilmethoden oft genutzt wird, da Therapeuten sich häufig viel mehr Zeit für die Anamnese nehmen, als Ärzte dies oftmals können. Bei anderen Menschen ist es der weiße Kittel des Doktors, das Stethoskop auf dem Schreibtisch oder das Blutdruckmessgerät, das Kompetenz und Vertrauen vermittelt – und damit einen kleinen Placebo-Effekt entstehen lässt, nämlich den Glauben: Hier finde ich Unterstützung. Idealerweise wurde einem schon mal ein Medikament verschrieben, das angeschlagen hat. Gute Erfahrung mit einem Arzneimittel verstärken dessen therapeutische Wirkung. Expertin Bingel dazu: „Wenn uns zum Beispiel eine bestimmte Schmerztablette viermal geholfen hat, kann es sein, dass sie beim fünften Mal sogar dann wirkt, wenn kein pharmakologischer Wirkstoff darin enthalten ist. Unser Körper hat ein Gedächtnis und ist konditioniert, das bedeutet: Er nutzt die gleichen Wirkbahnen, die er durch die medikamentöse Behandlung erfahren hat.“
Der Glaube versetzt Berge – auch und vor allem, wenn es um Heilung geht. Der Placebo-Effekt ist jedoch real. Er lässt sich durch objektive Parameter feststellen, etwa durch Veränderungen des Blutdrucks oder durch physiologische Reaktionen im Gehirn: „Die Zuversicht, dass die Behandlung wirkt, kann tatsächlich zu Aktivierungen bestimmter Zen
tren im Gehirn und letztlich zu heilenden biologischen Prozessen führen“, bestätigt auch Winfried Rief, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Philipps-Universität Marburg. Er bedauert, dass diese Dinge in der modernen Medizin so wenig berücksichtigt werden. „Es gibt klare Hinweise, dass sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wirkung von Behandlungen auf Placebo-Effekte zurückführen lässt. In klinischen Studien lässt sich in den Placebo-Gruppen oft 50 bis 60 Prozent der Wirkung feststellen, die auch in der Gruppe mit einem Arzneimittel auftritt. Das variiert natürlich je nach Erkrankung. Aber es lässt sich sowohl bei Krankheiten mit eher patientenorientiertem Ergebnis wie Schmerzen oder Depression beobachten als auch bei tatsächlich messbaren Erkrankungen wie Bluthochdruck.“
Patienten können lernen, die Schmerzbremse zu betätigen
Während man lange Zeit dachte, dass Placebos nur wirken, wenn man Patienten in dem Glauben lässt, es handle sich um ein wirksames Medikament, werden viele Studien mittlerweile offen durchgeführt. Den Teilnehmern wird gesagt, dass es sich teilweise oder ausschließlich um Tabletten, Kapseln oder Injektionen ohne medizinische Wirkstoffe handelt. Open-Label-Placebo-Forschung wird das genannt. Ulrike Bingel ist von den Ergebnissen ebenfalls beeindruckt. „Ich habe Patienten, die aufgrund ihrer Schmerzen schon vieles ausprobiert haben – und sehr aufgeschlossen sind für diese Untersuchungen. Zum einen finden sie es interessant. Ein weiterer wichtiger Aspekt, über den sie berichten, ist die Möglichkeit der Selbstwirksamkeit. Denn Placebos können selbstregulierende Prozesse im Körper auslösen und die Menschen lernen, ihre eigene Schmerzbremse zu aktivieren.“
In bildgebenden Verfahren wurde nachgewiesen, dass auch Scheinbehandlungen im Gehirn Prozesse auslösen, die zur Ausschüttung von Hormonen und Neurotransmittern führen, die an dieselben Rezeptoren anbinden wie die normalen Medika
EIN WEISSER ARZTKITTEL VERMITTELT AUTOMATISCH KOMPETENZ
des Phänomen: Je intensiver das Placebo, desto stärker die Wirkung. Eine Spritze wirkt mehr als eine Tablette, eine Schein-OP folglich besonders stark.
Heilung braucht auch etwas Magie
Schmerzforscherin Ulrike Bingel bedauert, dass in Lehrbüchern über die Wirkung von Arzneimitteln die Placebo-Phänomene so wenig Beachtung finden. Obwohl Ärzte, die tagtäglich viel mit Patienten zu tun haben, wissen: Die innere Haltung zu einer Heilmethode beeinflusst die Genesung. In den Kliniken für Integrative Medizin und Naturheilkunde in Essen oder im Immanuel Krankenhaus in Berlin wird dieses Wissen berücksichtigt. Der naturheilkundliche Arzt Prof. Andreas Michalsen sagt: „Viele Patienten haben eine völlig subjektive Interpretation ihrer Krankheit, die oft im Kontrast zur Schulmedizin steht. Wir achten auf diese Dinge. Allein dadurch,