Claudia Roth über ihre Eltern und die Liebe
CLAUDIA ROTH Die Bundestagsvizepräsidentin und GrünenPolitikerin redet in BUNTE voller Liebe von ihren Eltern, die sie prägten und darin bestärkten, ihren eigenen Herzensweg zu gehen
Kürzlich war Claudia Roth, 65, Gast einer Online-Konferenz der Grünen Jugend in Hessen, es ging um Klimaschutz. Ein junger Parteifreund lobte, es sei „so toll, dass ein Vorbild wie du, in deinem hohen Alter, mit uns diskutiert…“Weiter kam er nicht, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und wohl bekannteste Grünen-Politikerin des Landes rief lachend: „Hey, mein Lieber, das ist Altersdiskriminierung. Ich kenne auch Junge, die sich so steinalt benehmen, wie ich niemals werden will.“Im BUNTE-Gespräch schmunzelt Claudia Roth. „Meine Schuhe sind mit zunehmendem Alter flacher geworden. Aber meine Leidenschaft und Lust für Politik und Menschen sind noch genauso vorhanden wie zu meinen Zeiten als Studentin oder Grünen-Parteivorsitzende.“
Man glaubt es ihr sofort, wenn man sie in ihrem gemütlich eingerichteten Büro gegenüber des Reichstagsgebäudes erlebt. Ihren platinblonden kurzen Haaren fehlen wegen des Corona-Friseurlockdowns gerade die lilafarbenen Strähnchen. Doch ihr Lebensgefühl, wenige Wochen vor ihrem 66. Geburtstag am
15. Mai, sei „hervorragend und bunt. Ich habe täglich das Gefühl, noch gebraucht zu werden und etwas beitragen zu können zur Verbesserung der Welt.“Deshalb, und weil sie den Zuspruch ihrer jüngeren Kollegen rund um die Grünen-Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck erfahre, „werde ich bei der Bundestagswahl im September noch mal kandidieren. Seit Anfang der 80er-Jahre bin ich bei den Grünen dabei, habe viel mitgestaltet. Heute ist es mir ein großes Privileg, als Vizepräsidentin die Herzkammer unserer Demokratie, den Deutschen Bundestag, mitrepräsentieren zu dürfen – und mein Grün-Sein lege ich deswegen ja nicht ab. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag, darunter viele Antisemiten, Sexisten, Maskulinisten und Rassisten, ist es noch wichtiger geworden, für unsere Demokratie zu kämpfen. Das mache ich jeden Tag.“Mit ihrem Chef, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), „verstehe ich mich hervorragend. Natürlich schwätze mir scho richtig schwäbisch miteinander“, erzählt sie. Und: „Herr Schäuble sagte mir: ‚Frau Roth, solche wie sie braucht der Bundestag – so lang es nur eine ist.‘“Sie strahlt. „Das fand ich ein wunderbares Lob.“
Tief im HERZEN sollte man eine Grundhaltung haben
Sie studierten Theaterwissenschaften, wechselten nach drei Semestern als Intendantin an die Städtischen Bühnen Dortmund. Später managten Sie Rio Reisers Band Ton Steine Scherben. Hatten Sie einen Karriereplan im Kopf? Mein Karriereplan war ganz klar der Satz von Bertolt Brecht: „Ändere die Welt, sie braucht es.“Wobei ich dazu sagen muss, dass ich aus einem wohlbehüteten Haushalt kam. Ich habe keine soziale Not oder Ausgrenzung erfahren. Mein Vater war Zahnarzt, meine Mutter Lehrerin. Gute Bildung war meinen Eltern sehr wichtig. Meine Mutter war eine vornehme, elegante Erscheinung. Mein großes Vorbild und engste Vertraute. Mama war extrem kunstaffin, mein Vater kämpferisch und ein unfassbar kluger Mensch. Insofern war es als junge Frau für mich einfach, zu sagen, es geht mir nicht ums Geldverdienen oder eine „bürgerliche“Karriere.
Diskutierten Sie viel mit Ihren Eltern?
Und wie! Es wurde sogar eingefordert. Mein Vater sagte: „Bilde dir deine eigene Meinung. Und wenn du einen Standpunkt hast, tritt auch dafür ein.“Papa mobilisierte mich, eine aktive Demokratin zu sein. Meine Eltern und ich fochten zahlreiche Kämpfe aus, davon profitierten auch meine drei Jahre jüngeren Zwillingsschwestern. Ich hatte das unglaubliche Glück einer wundervollen Familie. Auch meine Großmutter prägte mich mit ihrer Herzenswärme und unerschöpflichen Liebe. Als ich am Theater anfing und mein Vater die Studienunterstützung einstellte, schickte sie mir regelmäßig Pakete mit Kaffee, Lebensmitteln und selbst gebackenem Kuchen. Wofür ich meinen Eltern besonders dankbar bin: Sie erzogen mich nicht mit klassischen Rollenklischees als Mädchen.
Sondern? Als meine Klassenkameradinnen in der Volksschule traditionell ihre Aussteuertruhen bekamen, fragte ich, warum ich keine hätte. Meine Eltern meinten: „Weil du das jetzt noch nicht brauchst.“Ich bekam stattdessen Goldkettchen, Bücher und Musikplatten von meinen Eltern geschenkt. Ein weiterer prägender Satz, den ich von meiner Mutter immer zu hören bekam, war: „Binde dich nicht zu früh an einen Mann und sieh zu, dass du selbstständig bleibst und auf eigenen Beinen stehst.“Daran muss ich heute oft denken. Mit der eigenen Familie wurde es bei mir ja leider nichts.
War Ihrer Mutter bewusst, was sie anscheinend in Ihnen bewirkte? Als ich 30 wurde, glaubte sie, ich hätte ja noch genügend Zeit für Mann und Kinder. Mit 40 meinte sie, jetzt würde es aber langsam Zeit werden. Als ich meinen 50. feierte, sagte sie, jetzt sei es wohl zu spät für was Festes (sie lacht).
Befürchteten Ihre Eltern jemals, aus Ihnen könne nichts werden? Niemals. Sie waren ja selbst schuld, dass ich mich fürs Theater interessiere. Sie nahmen mich regelmäßig mit in die Oper. Mein Vater wäre gern Sänger geworden, meine Mutter wollte Kunst studieren. Als ich mit der Band arbeitete, besuchte mein Vater mal ein Konzert, provokativ in Lodenmantel und Trachtenhut. Rio Reiser und die Band waren öfter bei uns zum Grillen. Meine Eltern integrierten meine Freunde ganz selbstverständlich in unsere Familie.
Ihren politischen Aufstieg bekam Ihr Vater nicht mehr mit. Mein Vater starb an dem Tag, als die Grünen 1998 mit der SPD den Koalitionsvertrag unterschrieben. Unseren Einzug in den Bundestag erlebte er leider nicht mehr mit. Aber über seinem Bett im Krankenhaus hing mein Wahlplakat. Meine Mama verstarb im Wahlkampf 2013, im August. Im September war die Wahl, kurz danach wurde ich Bundestagsvizepräsidentin. Ich weiß aber, dass beide stets bei mir sind.
Sie pflegen einen engen Austausch mit Robert Habeck und Annelena Baerbock. Wir sind Freunde. Mein Herz schlägt für beide gleichermaßen. Beiden traue ich eine Kanzlerkandidatur zu. Sie können es und zeigen, wie man integrativ zusammenarbeitet und eine Partei eint. Egal wer als Spitzenkandidat oder Kandidatin in den Bundestagswahlkampf zieht, sie oder er kann sicher sein, dass die Partei geschlossen hinter ihr oder ihm steht.
Was raten Sie Frauen, die am Anfang ihrer Karriere stehen? Man sollte tief im Herzen eine innere Grundhaltung haben und anhand derer seine Visionen vom Leben umsetzen. Schritt für Schritt, frei nach dem Philosophen Ernst Bloch, sich dem noch nicht Seienden zu nähern. Natürlich können Träume platzen, aber man sollte versuchen, sie zu leben. Dazu gehört natürlich Bildung, auch sollte man Sprachen lernen und das Handwerkszeug beherrschen. Ich arbeite heute noch stundenoder tagelang an meinen Reden, damit ich meinem eigenen Qualitätsanspruch gerecht werde. Leistung fällt nicht vom Himmel. Da sind wir wieder bei Angela Merkel. Ich kenne niemanden, der so gut vorbereitet ist und alles durchdringt wie sie. Sonst würde sie dieses extreme Pensum gar nicht schaffen. Es ist nicht leicht, erfolgreich zu sein. Aber wer niemals aufgibt, schafft es auch.
MEINE MUTTER WAR EINE VORNEHME, ELEGANTE ERSCHEINUNG. MEIN GROSSES VORBILD