Wer Hilfe zulässt, ist der Starke
Eigentlich ist es eine der banalsten Lebensweisheiten, dass man in keinen Menschen hineinschauen kann. Doch trotzdem maßen wir uns vielfach im Alltag an, die Gemütslage unserer Mitmenschen zu kategorisieren. Aber woher wollen wir es denn wissen? Woher wollen wir wissen, dass der stets scherzende Kollege wirklich eine Frohnatur ist? Oder versteckt er dahinter seine Unsicherheit? Woher wollen wir wissen, dass die in sich gekehrte Nachbarin eine Grüblerin ist? Oder macht sie sich Gedanken, wie sie anderen eine Freude bereiten kann? Woher wollen wir wissen, dass der schroffe Apotheker wirklich ein arroganter Kerl ist? Oder ist sein Verhalten ein uns nicht in den Sinn kommendes Zeichen einer tiefen Traurigkeit – einer Depression?
Nora Tschirner, einer der gefeiertsten deutschen Schauspielerinnen (u. a. „Keinohrhasen“, „Tatort“), sah man ihre seelischen Schmerzen auch nicht an. Über lange Jahre hinweg kämpfte sie mit Depressionen. „Ich erinnere mich, dass ich wirklich Angst hatte, mich aufzulösen. Dass ich mich verliere, wenn ich hinter mich schaue, in die Dunkelheit“, beschreibt sie in einem Gespräch mit dem „SZMagazin“ihre Qualen. Heute beurteilt Nora Tschirner die Abkapselung vom eigenen Umfeld als besondere Heimtücke der Depression: „Eine der größten Gefahren ist diese ständige innere Isolation, diese dauerhafte Empfindung, als Einziger die vermeintliche Hoffnungslosigkeit des Lebens entlarvt zu haben.“Die Schauspielerin konnte diese innere Mauer durchbrechen und fand Hilfe in einer Spezialklinik. „Die Medikamente waren wie Gehhilfen für mich, bis mein Körper das wieder selber konnte.“Und über die Therapeuten sagt sie: „Da gab es plötzlich einen geschützten Raum für mich. Da saß jemand. Ich war also nicht mehr allein.“
Nur wer Hilfe zulässt, kann Hilfe empfangen. Und nur wer offen auf andere zugeht, kann deren Bedürftigkeit erkennen. Nur wer Liebe im Herzen trägt, ist fähig, hinter die Fassade zu blicken und auch die kleinen Anzeichen zu spüren. Diese Sensibilität zu trainieren, macht uns zu glücklicheren Menschen. Denn mit mehr Achtsamkeit für den anderen erreichen wir, dass der andere auch uns mehr Achtsamkeit schenkt.
Eine einzige Kerze vertreibt die Finsternis.