Die Tote ist eine Krankenschwester
30. November 1944, Abend
Heller war von seinem Weg ins Krankenhaus vollkommen durchnässt. Er hatte sich seines Mantels entledigt und hoffte, dass dieser im Vorzimmer auf der Heizung ein wenig trocknen würde. Es war schwierig gewesen, einen Fachmann aufzutreiben. Das Krankenhaus war total überfüllt, das Personal überlastet. Besonders schwere Krankheiten häuften sich gerade, Verletzte von den Fronten trafen täglich ein, unterernährte Flüchtlinge mussten versorgt werden, die Läuseplage ging um. Heller war in das Arztzimmer beordert worden, wartete nun schon seit fast einer Stunde. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Max Heller schob den Ärmel seines Jacketts hoch, sah auf die Armbanduhr. In diesem Moment öffnete sich die Tür.
Heller erhob sich, doch der Arzt schritt straff an ihm vorbei zu seinem Stuhl, raffte den weißen Kittel, setzte sich und gebot Heller mit einer knappen Geste, sich wieder zu setzen. Doktor Alfred Schorrer, wie es auf dem Namensschild auf seinem Schreibtisch zu lesen war, lehnte sich zurück. Er war etwa in Hellers Alter oder knapp darüber. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten. Er trug einen kurz gestutzten Oberlippenbart, kaum mehr als ein silberner Schleier. Seine Augen waren grau, blickten hell und intelligent auf sein Gegenüber.
„Leider hatten Sie recht mit Ihrer Vermutung. Es handelt sich tatsächlich um eine unserer Krankenschwestern. Klara Bellmann. Sie ist, soweit ich weiß, nicht viel länger als ich hier im Krankenhaus, drei Monate. Sie arbeitete in der Frauenklinik.“Doktor Schorrer stützte seine Ellbogen auf die Armlehnen seines Stuhls und legte die Fingerspitzen der Hände zusammen.
„Ich fürchte, die junge Frau hat ein arges Martyrium hinter sich bringen müssen, ehe sie der Herr gnädig zu sich nahm. Keine ihrer Wunden scheint tödlich gewesen zu sein. Das Herz ist unversehrt. Es gibt einen Lungenstich, doch dies hat meist nur zur Folge, dass der betroffene Lungenflügel sich
mit Blut füllt. Ein sehr langsame Erstickungstod ist die Folge Oft genug erlebt an der Front Sie sind auch ein Frontkämpfe gewesen?“
Heller räusperte sich. „Ja, im letzten Krieg.“
Schorrer lebte sichtlich auf „Da war ich auch schon dabe Garde-Grenadier-Regiment Nr. 5 Und Sie?“
„Grenadier-Regiment Nr. 101“erwiderte Heller. Mehr würde e dazu nicht sagen.
Schorrer schien das zu ahne und kam augenblicklich zum The ma zurück. „Die Verletzung de Bauchdecke ist immer mit gro ßen Schmerzen verbunden, di tiefen Schnitte in Armen und Bei nen ebenso. Sie muss geschrie haben, es sei denn, sie ist bald bewusstlos gewesen. Ihr Tod tra entweder durch den Schock ei oder sie verblutete. Letzteres is mir wahrscheinlicher.“Schorrer tippte die Fingerspitzen zweimal aneinander.
Heller vermied es, sich mit der Hand in den Nacken zu fahren, er wollte nicht unsicher wirke angesichts des souveränen Auf tretens des Arztes. Doch er fühl te sich unwohl. Er fröstelte und rieb seine Schultern im Anzug Er ahnte, dass er heute Nach nur schlecht schlafen würde.
„Lässt sich nachvollziehen ob sie alkoholisiert war? Ode anderweitig betäubt, besin nungslos, gelähmt? Hat sie sic nicht gewehrt? Sie wird doch nicht freiwillig das Bootshaus betreten haben.“
Schorrer beugte sich ein wenig vor, sah auf ein Formular. „Eine Blutabnahme wurde vorgenommen“, erwiderte er knapp. „Noch Fragen?“
„Sie leiten dieses Haus? Man sagte mir, Sie seien Pathologe.“
„Das bin ich. Doch das Gebot der Stunde erfordert besondere Maßnahmen, weshalb mein Wirkungsbereich über mein Fachgebiet hinaus erweitert wurde.« Schorrer öffnete die Handflächen. „Nun, Herr Kriminalinspektor, es gibt viel zu tun!“ schied gegenüber und zögerten einen Moment.
„Heil Hitler.“Heller hob den Arm, doch er streckte ihn nicht ganz durch und ließ ihn augenblicklich wieder fallen.
Doktor Schorrer tat es ihm gleich und einen Moment lang sahen sie sich dabei forschend in die Augen. Im Vorzimmer gab ihm Schorrers Sekretärin den Mantel wieder, der angenehm warm geworden war. Heller bedankte sich und ging.
Auf dem Gang roch es nach Abendessen, nach Brühe und
Brot. Er selbst aus ein paar Kartoffeln und salzigen Rüben nichts mehr gegessen. Das Personal ging ungerührt seiner Arbeit nach. Heller musste ein-, zweimal ausweichen, presste sich an die Wand, als Essenswagen und Betten an ihm vorbeigeschoben wurden.
Im Treppenhaus wartete er nicht auf den Aufzug, sondern nahm die Treppe.
„Sagen Sie“, sprach er eine vorbeilaufende Krankenschwester im Erdgeschoss an, „wo finde ich die Personalabteilung?“
„Das Verwaltungsgebäude ist da hinten, aber dort ist jetzt nie