Waren sie Getriebene?
BERLIN - Die aktuelle Flüchtlingskrise, Stichwort: Griechenland, ist in der öffentlichen Wahrnehmung derzeit angesichts von Corona ins Hintertreffen geraten. Auch die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 wäre wohl kaum Thema, machte nicht ein TVFilm sie dazu. „Die Getriebenen“, heute Abend (20.15 Uhr) in der ARD zu sehen, ist ein Film auf Grundlage des gleichnamigen Buches des Journalisten Robin Alexander (44) von 2017.
Die wichtigste Protagonistin dieser Zeit war die Bundeskanzlerin, Angela Merkel (65). Ihr kurzer Satz „Wir schaffen das“wird Geschichte geschrieben haben, das lässt sich wohl sagen, auch wenn die betreffenden Ereignisse noch zu nah sind, um eine belastbare historische Bewertung zu erfahren. Der Film steigt ein mit der Euro-Krise und der Frage, ob Griechenland in der Währungsunion bleiben soll. Merkel sitzt in der Regierungslimousine, telefoniert mit Wolfgang Schäuble. Kurz darauf bekommt sie eine Nachricht aufs Handy: Ungarn baut einen Grenzzaun.
Die Ereignisse überschlagen sich von nun an und treiben die Politiker in der sich zuspitzenden Flüchtlingskrise als kurzatmig Reagierende vor sich her, so zumindest beschreibt es Robin Alexander in seinem Buch, das als gut recherchiert gilt. Das Buch war kaum auf dem Markt, als der Regisseur Stephan Wagner schon den Plan fasste, es zu verfilmen. Nun ist der Film da, und er gibt viel wieder von der Nervosität, wie sie das Land umtrieb im Sommer 2015. Er wagt sich in die Binnenperspektive der Macht, zeigt Merkel, de Maizière, Seehofer, Gabriel und viele andere, wie sie versuchen, der Entwicklung Linie zu geben. Das hat, auch wenn es sich eng an das Dokumentierte hält, weniger dokumentarischen als Spielfilm-Charakter. Die Protagonisten werden verkörpert von einer hochkarätigen Besetzung. Imogen Kogge gibt Angela Merkel, Rüdiger Vogler ist Wolfgang Schäuble, Josef Bierbichler macht den Seehofer. Und so weiter.
Zu einem Spielfilm gehört, dass er interpretiert. An dieser Stelle tun sich Unterschiede auf zum Buch. Wo sich Autor Robin Alexander an der Kanzlerin reibt, geht der Film verständnisvoller mit ihr um. „Der Film ist auch eine eigenständige filmische Annäherung an die Person Angela Merkels und ein, so finden wir, würdigendes Porträt der Kanzlerin“, so formuliert es Martina Zöllner, Filmund Dokuchefin des rbb, der ausführenden ARD-Anstalt. Dabei setzt der Film Merkel auch den demütigenden Erfahrungen jenes Jahres 2015 aus, etwa in Heidenau, wo sie sich im August von wütenden Bürgern wüst beschimpfen lassen musste, oder beim CSU-Parteitag im November, als Horst Seehofer sie auf offener Bühne bloßstellte.
Wie sich die Zeiten ändern. War Angela Merkel während der Flüchtlingskrise (nicht nur) in Deutschland höchst umstritten - von den einen bewundert, von den anderen gehasst -, finden sie und ihre Politik angesichts von Corona derzeit flächendeckende Zustimmung. Ein Film über Corona wird mal einen anderen erzählerischen Ansatz finden müssen. gg