Leben im Angesicht der Seuche
DRESDEN - Der 16. April, das heutige Datum, hat literaturhistorische Bedeutung, denn es ist eine berühmte Geschichte, die an diesem Tag einsetzt. Ein Roman, der im Abstand von mehr als 70 Jahren angesichts von Corona ungeahnte Aktualität wiedergewonnen hat. Die Rede ist von Albert Camus’ „Die Pest“, 1947 in Frankreich, zwei Jahre später in Deutschland erstmals erschienen.
Die Chronik eines Ausnahmezustandes. „Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte“, so heißt es im Buch. Es sind die 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen der Roman spielt, die genaue Jahreszahl lässt der Autor aus. Die Ratte ist Vorbotin der Krankheit, die wie aus heiterem Himmel über die algerische Küstenstadt Oran während neun Monaten hereinbricht. Zunächst wird die Pest geleugnet, dann die Bedrohungslage verdrängt. Als es der Toten immer mehr werden, versucht die Stadtpräfektur, die Lage mit restriktiven Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Ein Heilmittel gibt es nicht, deshalb wird die Stadt abgeriegelt. Ausgangsverbote werden erlassen. Angehörige von Erkrankten und Sterbenden ferngehalten. Täglich werden die Toten gezählt. Mittendrin Rieux, der Arzt, der unermüdlich gegen die Aussichtslosigkeit ankämpft.
Das Buch erschien
1976 in der DDR
Der Roman unterscheidet sich in manchem von der heutigen Situation. Corona ist nicht die Pest. Doch wirken einige Passagen, als beschrieben sie die Gegenwart. „Die Pest“zählt zu den bedeutenden Romanen der Nachkriegszeit und machte seinen Autor berühmt. In Italien und Frankreich, wo das Coronavirus eher und heftiger ausbrach als in Deutschland, war das Buch schon im Februar zeitweilig ausverkauft. In Japan hat seine Gesamtauflage die Millionengrenze gerissen. Diese Marke hatte der Roman in der Bundesrepublik schon in den 80er-Jahren übertroffen. Auch in der DDR ist er erschienen, 1976 bei Reclam.
Über die Gesamtauflage hierzulande macht der Rowohlt Verlag, wo Camus’ Werk erscheint, keine Angaben, doch sei derzeit die 91. Auflage im Buchhandel erhältlich, so Rowohlt-Sprecherin Regina Steinicke zur MOPO. Die Nachfrage sei ungebrochen. „Eine weitere Auflage ist beauftragt“, so Steinicke. Der Roman ist wieder zum Bestseller geworden.
Was ist dran an diesem Buch? „Die Pest“ist literarische Metapher
auf die deutsche Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg und Ausdruck der Philosophie des Absurden, die Camus zu jener Zeit entwickelt. Die Absurdität des Lebens, sie ist dadurch gegeben, dass der Mensch nach dem Sinn des Lebens fragt, die Welt aber schweigt. Gott ist für Camus keine Option. Wie nun dem menschlichen Leben in einer anscheinend sinnlosen Welt gleichwohl Sinn geben? Die Frage beantworten, „ob das Leben sich lohne“, unter anderem davon handelt sein Werk, das bis heute fesselt. Einen Existenzialisten hat man ihn genannt, Albert Camus, der leidenschaftlich für das Leben und gegen die Todesstrafe und auch gegen die totalitären Ideologien seiner Zeit stritt. Er selbst lehnte dieses Etikett zeitlebens ab.
Die Seuche stirbt nie aus
Sich gegen die Sinnlosigkeit aufzulehnen, indem er sich seiner Freiheit bewusst werde, leidenschaftlich lebe, sich von keinem System vereinnahmen lasse und mitfühlende Verantwortung für seine Mitmenschen übernehme, war für Camus das Prinzip, durch das der Mensch gegen die „Gleichgültigkeit der Welt“bestehen kann. Er nannte dieses Prinzip eines Humanismus fern jeder Religion Revolte.
So revoltiert im Roman Doktor Rieux in seinem unermüdlichen Einsatz für die Pestkranken gegen das Verhängnis.
Die Pest in Oran endet schließlich, jedoch grundlos. Sie hört einfach auf, besiegt ist sie nicht. Sicher sei, „dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet , lässt Camus seinen Erzähler Rieux die Chronik beschließen. Der Ausnahmezustand ist jederzeit wieder möglich, Bedrohung und Beunruhigung bleiben allgegenwärtig. Dennoch hat Doktor Rieux etwas gelernt von der Seuche, „nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt“.
1913 im Norden Algeriens in Armut geboren, einige Hundert Kilometer östlich von Oran, starb Albert Camus, der 1957 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, im Januar 1960 bei einem Autounfall einen in seiner Zufälligkeit sinnlosen, man möchte sagen: absurden Tod. Seine Bücher überleben ihn. Sie sind so packend wie eh und je.
Bleiben Sie von Corona verschont, liebes Publikum, und lesen Sie „Die Pest“! gg