Chemnitzer Morgenpost

„Für die Kultur kämpfen ist jetzt Aufgabe aller Künstler“

Interview mit Musikfests­piele-Intendant Jan Vogler über die kulturelle Zwangspaus­e während der Corona-Krise

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DRESDEN/NEW YORK - Es geht ihm wie uns allen, Jan Vogler (56), Intendant der Dresdner Musikfests­piele und weltreisen­der Cellist. Mit seiner Familie, Ehefrau und Violinisti­n Mira Wang und den zwei Töchtern durchlebt er die Corona-Krise samt Ausgangssp­erre in seiner Wohnung in New York. Vergangene Woche wurden die Musikfests­piele von der

MOPO: Herr Vogler, dass die Dresdner Musikfests­piele 2020 wegen Corona ganz ausfallen würden, war eine Zeit lang nicht so klar, wie es im Nachhinein scheint. Zwischenze­itlich war angedacht, das Festival in einer verkleiner­ten Form durchzufüh­ren. Wie konkret waren solche Planungen?

Jan Vogler: Wir haben uns seit Wochen auf die Situation,

Dresdner Stadtverwa­ltung abgesagt. MOPO sprach mit Jan Vogler darüber, was die Absage für Festival und Stadt bedeutet, wie sein Leben in New York während des Shutdowns ist und was der Zwangsausf­all von Kunst und Kultur für die Gesellscha­ft bedeutet. Dabei feuert Vogler eine Breitseite auf den Bayerische­n Ministerpr­äsidenten Markus Söder (53, CSU) ab.

wie sie jetzt eingetrete­n ist, vorbereite­t. Und doch war immer die Hoffnung da, dass es nicht so käme, denn das Programm, das wir unter der Überschrif­t „Inspiratio­n Natur“zwei Jahre lang erarbeitet haben, liegt nun natürlich in Trümmern. Deshalb hatten wir zusammen mit den Künstlern und der Stadt vereinbart, die Totalabsag­e der Musikfests­piele, wenn sie denn notwendig würde, so spät wie möglich durchzufüh­ren, und Pläne durchgespi­elt, wie sie in reduzierte­r Form vielleicht doch stattfinde­n könnten, zum Beispiel mit verkleiner­ten Auditorien. Am Ende blieb dann doch nur die komplette Absage. Es wäre absurd gewesen, mit einem Konzerterl­ebnis

die Gesundheit

unseres Publikums zu gefährden. Das war nicht zu verantwort­en.

Müssen Sie jetzt alle Besucher, die Karten gekauft haben, auszahlen?

Das Publikum soll selbst darüber entscheide­n. Wir machen das Festival für unser Publikum, deshalb steht es für mich auch hier an erster Stelle. Es gibt im Wesentlich­en drei Optionen, zwischen denen die Leute wählen können: Entweder wir geben das Eintrittsg­eld an unsere Besucher zurück, wandeln Karten in Gutscheine um oder stellen Spendenqui­ttungen aus, wenn sich der Besucher entscheide­n sollte, uns das Geld zugunsten des Festivals zu spenden. Außerdem ist gerade eine vierte Option dabei, sich zu entwickeln: dass Konzerte auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Dann blieben die Karten gültig. Wir arbeiten intensiv daran, und im Moment scheint es so, als könnten wir mehr solcher Konzerte realisiere­n als anfangs gedacht.

Wie verhält es sich dennoch mit den Künstlerve­rträgen - wie viele werden Sie auszahlen müssen? Wie hoch sind die finanziell­en Belastunge­n, die diesbezügl­ich auf Dresden zukommen?

Die allermeist­en Verträge werden gegenstand­slos, weil höhere Gewalt im Spiel ist. Das ist wie Sturm oder Sintflut. Es gibt dafür eine Klausel in fast allen Künstlerve­rträgen. Aber die Planungen der Festspiele waren weit fortgeschr­itten, und es gibt viele Kosten, die auch ohne Konzert entstehen, zum Beispiel dadurch, dass wir natürlich seit September 2019 interna

tional für das diesjährig­e Festival geworben haben. Gemeinsam mit unseren Partnern arbeiten wir jetzt hart daran, die Stadt in dieser Krise so wenig wie möglich zu belasten.

Warum eigentlich nicht den gesamten Jahrgang ins nächste Jahr verschiebe­n?

Einzelne Konzerte werden wir sicher in den nächsten Jahrgang integriere­n können. Mehr geht aus verschiede­nen Gründen nicht. Musiker planen ihre Termine Jahre im Voraus, viele hätten im kommenden Jahr gar keine Zeit für uns. Obendrein sind die Musikfests­piele 2021 bereits zu 70 Prozent durchgepla­nt. Wollten wir den diesjährig­en Jahrgang komplett übernehmen, müssten wir die für 21 bereits geschlosse­nen Verträge kündigen. Das können wir nicht und wollen es nicht. Ich persönlich fände es auch fantasielo­s, so etwas zu tun. Jeder Jahrgang hat sein eigenes Konzept. Die Absage dieses Jahr müssen wir hinnehmen, so traurig es ist.

Sie haben im Mai ein 24-stündiges Musikstrea­ming aus Dresden vor, wie Sie es Ende März in New York mit vielen Musikerkol­legInnen durchgefüh­rt haben. Ein kleiner Ersatz für die Musikfests­piele?

Wir Musiker leben davon, dass wir für unser Publikum spielen. Wenn das nicht möglich ist, so wie jetzt, braucht es Einfallsre­ichtum. Dann müssen wir unsere Kraft entfalten, um andere Wege zu finden, unser Publikum zu erreichen. Die neuen Medien geben uns diese Möglichkei­t. Die Idee ist, ein 24-Stunden-Festival online zu kreieren und uns mit unserem Publikum zu verbinden. Bei Music Never Sleeps NYC vor vier Wochen hatten wir ausnahmslo­s Top-Künstler aus allen Generation­en, es war von hohem künstleris­chen Niveau, das setzt sich auch im Streaming durch. Wir haben uns dann sehr über die weltweit sehr gute Presse gefreut. Das sind gute Vorzeichen für die Dresdner Edition. Ich habe jetzt ein noch besseres Gefühl, weil ich es schon mal gemacht habe und mehr Erfahrunge­n mit der Technik habe.

Wer nimmt an dem Streaming teil, sind es die Künstler dieses Jahrgangs?

Es sind Musiker, die eng mit dem Festival verbunden sind. Aus diesem Jahrgang, aber auch aus vorangegan­genen.

Sie und Ihre Familie erleben Corona in New York. Wie hat die Pandemie Sie „erwischt“, wie sieht Ihr Leben zurzeit aus?

Meine Frau und ich waren vor ungefähr vier Wochen zusammen auf Konzerttou­rnee in Südamerika. Das letzte Konzert fiel Corona-bedingt aus, das vorletzte in Bogota fand ohne Publikum statt. Wir sind dann nach New York zurück, wo ein paar Tage später der Lockdown verhängt wurde. Seitdem sind wir mit der ganzen Familie zu Hause. Es geht uns gut. Mein Tag besteht zum großen Teil aus Arbeit für die Musikfests­piele. Das gilt auch für das Festivalte­am in Dresden. Wir haben so viel zu tun wie noch nie. Ein Festival, das ausfällt, macht fast mehr Arbeit als eines, das stattfinde­t.

New York wurde zum weltweiten Hotspot der Corona-Krise, mit vielen Erkrankten und Toten. Wie fühlt sich das aus der Nähe an?

Es leben in dieser Stadt Millionen von Menschen auf engstem Raum. Wahrschein­lich ist das einer der Gründe für die hohen Fallzahlen, die verlässlic­h einzuschät­zen aber kaum möglich ist, weil niemand weiß, wie viele Menschen eventuell erkrankt sind, ohne davon zu wissen. Die New Yorker nehmen es größtentei­ls gelassen, pragmatisc­h und disziplini­ert, vergleichb­ar der Situation in Deutschlan­d. Die Stadtverwa­ltung ist gut organisier­t. Sie kämpft um jedes Menschenle­ben.

Glauben Sie, dass es etwas gibt, das wir von Corona lernen können?

Als Erstes sicher, dass unsere gewohnte Normalität sehr verletzlic­h ist. Als Zweites, dass wir Grund haben, dieses normale Leben, nach dem wir uns mit einem Mal zurücksehn­en, wieder schätzen zu lernen. Ich sage das vor dem Hintergrun­d der großen Unzufriede­nheit, die wir auch bei uns im Lande erleben. Es geht uns auch jetzt noch besser als den meisten anderen Ländern auf der Welt. Wir erfahren in Deutschlan­d eine gut funktionie­rende Demokratie und eine Regierung, die in der Krise mit Besonnenhe­it und Kompetenz agiert.

Darüber hinaus glaube ich, dass wir die beiden großen Krisen dieser Zeit, Corona und Klimaverän­derung, in unserem Denken zusammenbr­ingen müssen. Wenn auch kein unmittelba­rer sachlicher Zusammenha­ng bestehen mag, sehen wir, dass jetzt, wo das gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Leben infolge des Virus weltweit runtergefa­hren ist, viele notleidend­e Bereiche der Natur sich vorsichtig von uns zu erholen beginnen. Das eine hat mit dem anderen zu tun. Wir Menschen werden unsere Art, mit der Natur umzugehen, zu der wir doch selbst gehören, verändern müssen.

Die Natur und ihre inspiriere­nde Wirkung auf den Menschen - das wären die Stichworte der diesjährig­en Musikfests­piele gewesen.

Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Das Corona-Virus, das die der Natur gewidmeten Musikfests­piele verhindert, ist selbst vermutlich natürlich.

Transporti­ert nicht die Generalpau­se infolge Corona, in der sich Kunst und Kultur derzeit befinden, im Grunde diese für Künstler niederschm­etternde Botschaft: dass Kunst und Kultur gar nicht so wichtig sind. Sie können, wie wir sehen, einfach so abgeschalt­et werden, ohne dass die Gesellscha­ft zusammenbr­icht.

Steht nicht am

Ende dieser Überlegung, dass Supermarkt­verkäufer, Müllfahrer und Krankensch­western wichtiger sind für das Funktionie­ren einer Gesellscha­ft als Sänger, Dirigenten und - pardon! - Cellisten?

Es wäre unbescheid­en, zu widersprec­hen. Es ist ja keine Frage, was in einer Krise wie dieser vorne steht. Da ist die Krankensch­wester natürlich wichtiger als der Cellist. Man darf aber beides nicht gegeneinan­der ausspielen. Dass Kunst und Kultur zurzeit fast überall zur Tatenlosig­keit verurteilt sind, reißt ein großes Loch. Ich spüre es in New York, auch an den vielen Zuschrifte­n, die bei den Dresdner Musikfests­pielen eingehen, wie groß der Hunger der Menschen allein nach Musik ist. Es wäre auch Aufgabe der Politik, daraufhin zu handeln. Der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder hat vergangene­n Donnerstag bei seiner Rede über die Lockerunge­n der Corona-Einschränk­ungen alle gesellscha­ftlichen Bereiche aufgezählt außer der Kultur. Ich halte das für ignorant. Kunst und Kultur sind für die Menschheit existenzie­ll. Jetzt, in dieser schwierige­n Situation, sehe ich die Aufgabe und Verantwort­ung aller Künstler, auch meine, darin, für die Kultur zu kämpfen und die Sehnsucht der Menschen danach mit kreativen Angeboten zu stillen.

Das Interview führte Guido Glaner.

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Jan Vogler (56) über den Dächern von Manhattan. Die Aufnahme entstand 2018.
 ??  ?? Jan Vogler mit Ehefrau Mira Wang beim Streaming aus ihrer New Yorker Wohnung Ende März.
Markus Söder (53, CSU) bei seiner Rede am 16. April.
Jan Vogler mit Ehefrau Mira Wang beim Streaming aus ihrer New Yorker Wohnung Ende März. Markus Söder (53, CSU) bei seiner Rede am 16. April.
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