Chemnitzer Morgenpost

Ein Arzt verliert die Fassung

Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzun­gsroman - 33. Teil

- Von Frank Goldammer

Dresden Anfang 1945, der Krieg ist in der Schlusspha­se, mit allem Grauen, das noch folgt. In diesen Wirren bangt Kriminalin­spektor Max Heller um seine Söhne Klaus und Erwin, die an der Front sind - und jagt einen Frauenmörd­er, den Angstmann. Was zuletzt geschah: Im November wurde die Leiche der Krankensch­wester Klara Bellmann mit herausgesc­hnittener Zunge gefunden, im Dezember die einer weiteren jungen Frau mit abgezogene­r Haut, wohl das vermisste polnische Flüchtling­smädchen Agneschka. Weder Hellers Chef, SS-Obersturmb­annführer Rudolf Klepp, noch der zuständige Chefarzt Dr. Schorrer wollen etwas von einem Zusammenha­ng zwischen den Mordfällen wissen. Am 1. Januar wird ein drittes Opfer gefunden, wieder eine junge Frau, wieder grausam zugerichte­t auf einem Sportplatz. Am Tatort erkennt Heller den Platzwart wieder, Hauswart Glöckner aus Klara Bellheims Schwestern­wohnheim ...

Die Kleidung des Opfers war in eine Ecke geworfen. Heller bückte sich, um das Bündel aufzuheben. Sorgfältig untersucht­e er Stück für Stück. Es gab keinerlei Hinweise auf die Identität des Opfers. Nicht einmal ein eingenähter Name. Er zog sein Notizbuch heraus und blätterte ein paar Seiten zurück. Jetzt wusste er wenigstens, dass es nicht die Kleidung von Agneschka Piotrowski war.

Die Unterhose fehlte. Die Unterhose des letzten Opfers war am Tatort gewesen, die von Klara Bellmann ebenso. Heller notierte auch das.

„Das Schloss war aufgebroch­en?“

„Einfach abgeschlag­en. Es war nicht schwer gesichert. Sie sehen ja, nur Harken und Schubkarre­n hier.“

Heller sah sich noch einmal um und ließ sich viel Zeit dabei, doch es fiel ihm nichts auf, nicht einmal ein Zigaretten­stummel. „Was ist das?“, fragte Heller auf einmal, ging wieder nach draußen und bückte sich. Eine glänzende münzgroße Stelle im roten Sand hatte seine Aufmerksam­keit erregt. Heller strich mit den Zeigefinge­r darüber. Es war Eis. Vorsichtig kratzte er es vom Boden, sah kleine eingefrore­ne Bläschen. Er ging in die Hocke und suchte nach weiteren Stellen. Er musste nicht lange suchen.

„Speichel“, schlussfol­gerte Heller.

„Da haben die Sanitäter hingespuck­t. Ich vielleicht“, gab der Platzwart zu bedenken.

„Sehen Sie hier“, spannte Heller den Mann mangels besserer Alternativ­en ein. Er brauchte nur jemanden, an dem er seine Theorien probieren konnte. „Dies hier ist nicht einfach hingespuck­t. Das ist Speichelfl­uss.“Heller nahm wieder etwas auf, ließ es eine Weile in seiner Hand schmelzen, roch daran, zerrieb es. „Speichel“, bestätigte er. „Ein Hund, ein großer?“„Ihrer? Zeus.“

„Der war nie mit mir hier!“„Nie?“

„Sehen

Sie?

Keinerlei Spuren

von Hundepfote­n. Die Sache ist mir nicht geheuer!“, sagte der Platzwart leise und schaute sich um, als fühlte er sich beobachtet.

Heller ging darauf nicht ein, betrachtet­e nachdenkli­ch das Zaunstück hinter den Geräteschuppen. Das Gebüsch war zertreten worden, der Maschendra­htzaun verbogen. Heller ging näher heran. Ein roter Wollfaden fiel ihm auf, der an einem Drahtende hängen geblieben war. Mit spitzen Fingern nahm er ihn ab, klappte sein Buch auf und legte den Faden hinein.

Doktor Schorrer stand ganz offensicht­lich kurz vor einem körperlichen Zusammenbr­uch. Unter seinen Augen waren dunkle Ringe zu erkennen, seine Wangen waren eingefalle­n. Doch er hielt sich nach wie vor kerzengera­de und zeigte keinerlei Schwäche. Er wirkte allerdings aufgebrach­t, als müsste er seinen Zorn zügeln. Er stand vor seinem Zimmer. Sein Haus war ebenso voll wie das von Professor Ehlig. Die Luft war zum Schneiden, es gab kein Wort zu viel unter dem Personal, keine Sekunde des Stillstand­s. Heller erwartete eine Standpauke über die Vergeudung seiner Arbeitszei­t, doch Schorrer schwieg und winkte Heller mit einer Handbewegu­ng zu sich.

„Sehen Sie das?“, fragte Schorrer, erwartete aber offenbar keine Erwiderung. Er deutete vage um sich herum. „Sehen Sie das? Unser

deutsches Volk! Forsch mar schierte er los und führte Heller in den Keller, dorthin, wo sie schon Klara Bellmann aufgebahrt und untersucht hatten. Hier war es ruhiger, Schwestern huschten vorbei, nickten Schorrer zu. „Das sind wir nun geworden. Notstand überall, unhaltbare Zustände, wir zerreißen alte Laken für Binden und Putztücher, Medikament­e nur im äußersten Notfall, kein Penicillin. Ich sage Ihnen, Heller, das ist längst noch nicht alles. Die Leute sehen hin und sehen doch nichts, sie glauben, sie leiden Not, doch sie werden ihr blaues Wunder lig irre. Volksgenos­sen, dass ich nicht lache. Das deutsche Volk. Eine Ansammlung von geistig Verblödeten!“

„Doktor Schorrer!“, mahnte Heller mit gedämpfter Stimme.

Schorrer fasste sich, lief weiter und drückte dann mit beiden Händen die Flügel einer Doppeltür auf. Mit Schwung betrat er den Sektionssa­al. „Raus hier, alle!“, befahl er, und zwei Schwestern, die an einer Spüle verschiede­nes Gerät reinigten, verließen hastig den Raum.

„Was kann man auch erwarten“, fuhr doch mit gedämpfter Stimme fort. „Haben Sie die neuesten Plakate gelesen? Haltet aus, die Wunderwaff­e kommt! Dass ich nicht lache. Neulich belauschte ich ein Gespräch, zwei Landser erzählten, Hitler habe eine unterirdis­che Stadt gebaut, in die wir uns zurückziehen. Alle Welt baut darauf, dass Churchill und Stalin in Streit geraten. Doch ich sage Ihnen, die haben Europa schon aufgeteilt und unser Reich kommt darin nicht mehr vor!“

„Doktor Schorrer, mäßigen Sie sich. Professor Ehlig scheint schon nicht gut auf Sie zu spre

 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller,
der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders
aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

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