Ein nächtlicher Eindringling
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 46. Teil
Mitten in der Nacht kam er heim. Nach einem zweiten Alarm, der ihn bis nachts um elf in einem Keller beim Postplatz aufgehalten hatte. Diesmal gab es keine Bomben. Doch was Heller gesehen hatte, hatte ihm gereicht. Seinen Russen hatte man nicht mehr zugetraut, als Scherben aufzukehren, Schaufenster, Türen und Scheiben mit Brettern zu sichern, Löschwasser herbeizuschleppen, obwohl jede helfende Hand vonnöten gewesen wäre, nach Verschütteten zu suchen. Sie sangen nicht mehr, doch in ihren Augen lag ein gewisses Vergnügen, eine Schadenfreude.
Als er seine Wohnungstür aufschloss, kam Karin ihm schon entgegen.
„Ist es wahr, ein paar tausend Tote?“, fragte sie und umarmte ihn.
„Tausend etwa, ist aber nicht offiziell.“
Karin wusste: Was nicht offiziell war, war nur für sie bestimmt.
„Sie haben den Bahnhof Friedrichstadt und den Hauptbahnhof angegriffen.“
„Willst du etwas essen?“Sie hatte ihn losgelassen und blieb abwartend neben ihm stehen. „Hast du noch?“
„Ich kann Bratkartoffeln machen. Lehmann hatte mir ein Stück Speck zurückgelegt. Und ich bekam heute sogar eine Jagdwurst und 200 Gramm Butter.“
Heller dachte kurz nach. „Nein, kein Geruch im Haus jetzt. Das machen wir am Sonntag, zum Mittag. Ich bin auch gar nicht so hungrig. Ich werde mich waschen und dann schlafen wir.“
„Max, heut ist Dienstag!“„Gut, dann morgen Abend, nicht wahr.“Heller wunderte sich, dass Karin sich so benahm. Irgendetwas war anders mit ihr. Da war dieses kurze Zögern, dieser etwas zu lange Blick.
„Karin, was ist los?“
„Hast du nicht gehört? Magdeburg ist heute bombardiert worden, ganz furchtbar kaputt muss
alles sein. Max, weißt du noch? Magdeburg!“
Heller nickte. Magdeburg war eine schöne Erinnerung, die sich immer mehr verflüchtigte. Wie ein Traum. Eine Reise im Mai, so unbeschwert, die Jungen, noch klein, bestaunten die Dampflok, die Menschen so freundlich. Jetzt war alles anders. Jetzt war Krieg. „Juden raus!“, hatte einer heute gebrüllt.
Er spürte, wie Karin ihn von der Seite musterte, und strich ihr beruhigend über den Arm.
„Es ist noch ein wenig warmes Wasser auf dem Herd“, sagte sie leise und Heller ging sich waschen. Er sparte mit der Seife, wie immer in der letzten Zeit.
Vorhin war ein Wagen an ihm vorbeigekommen. Zehn Menschen hatten auf ihm gelegen. Oder mehr. Er hatte weggesehen. In seinem Leben hatte er genug Tote gehabt. Diese Bilder trug er schon seit dreißig Jahren mit sich herum. Und dann war diese Wand in der Adlergasse eingestürzt. Ein Knistern wie von Geschenkpapier. Ein grauenhaftes Geräusch. Wie sie alle gerannt waren und wie die graue Wolke sie eingeholt, sie erfasst hatte wie eine Meereswoge. Für einen Moment
verharrte Heller in gebückter Haltung über der Waschschüssel. Tausend Tote. Und er sorgte sich um einen Mörder.
Heller schlug die Augen auf. Er lag auf dem Rücken, konnte sich nicht an ein Aufwachen erinnern und war sofort bei vollem Bewusstsein. Die Stille zischte in seinen Ohren. Das Herz schlug ihm in der Kehle, als wollte es aus ihm herausspringen. Um ihn herum war es dunkel. Nur ein schmaler Streif dort, wo das Fenster war. Das Verdunklungsrollo war nicht ganz geschlossen. Karin zog es immer ein wenig auf, wenn sie das Licht gelöscht hatten. Er hörte Karins Atem neben sich, er ging leise, gleichmäßig. Sie lag im Tiefschlaf.
Warum war er aufgewacht? Er hatte nicht von den Bomben geträum die e mehr
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He gen zu Schlitzen, damit man das Weiß der Augäpfel in der Dunkelheit nicht sah. Das hatte er als Kind bei Karl May gelesen. Old Shatterhand machte das, wenn er sich anschlich. Seltsam, dass ihm das gerade jetzt einfiel. Heller bewegte langsam seine Augen nach rechts, zur Tür, die langsam Konturen annahm. Ein helles Rechteck gegen die dunkle Tapete. Sie stand offen. Sonst war sie immer geschlossen.
Heller spannte sich unter der schweren Daunendecke und überlegte fieberhaft, wo sein Mantel mit der Pistole war. Im Korridor, an der Garderobe. Er hatte noch nie in Erwägung gezogen, die Waffe zu sich ans Bett zu nehmen. Das bereute er jetzt.
Der nächste Weg wäre der zur
Küche, wo es Messer gab. Doch alles war dunkel in der Wohnung. Viel zu dunkel.
Dann, ein Geräusch. Ein leises Klicken, als fiele ein Sandkorn zu Boden, ein feuchter Lidschlag, ein Schlucken mit trockener Kehle.
Hellers Herz schlug so hart, dass er meinte, es müsse bersten. Seine Haut spannte sich wie festes Tuch. Karin, dachte er, er würde für sie kämpfen.
Wieder ein Geräusch. Diesmal anders. Wie ein lang angehaltener Atemzug, der sich nicht länger unterdrücken lässt, ein weiches Zischen wie bei einem Parfümzerstäuber.
Vorsichtig öffnete Heller seine Augen ein wenig mehr, drehte sich unter der Decke um, als täte er es im Schlaf Dann sah er an