Ratlos in Trümmern
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 57. Teil
Dresden Anfang 1945, der Krieg ist in der Schlussphase, mit allem Grauen, das noch folgt. In diesen Wirren bangt Kriminalinspektor Max Heller um seine Söhne Klaus und Erwin, die an der Front sind - und jagt einen Frauenmörder, den Angstmann.
Was zuletzt geschah: Im November wird Krankenschwester Klara Bellmann tot gefunden, im Dezember und Januar werden weitere Opfer grausam ermordet. Hellers Chef, SS-Obersturmbannführer Rudolf Klepp, sieht schließlich ein, dass ein Serienmörder am Werk ist. Er stellt Heller den linientreuen Strampe zur Seite. Der erschießt einen flüchtigen Fremdarbeiter aus Frankreich, Claude Bertrand, der in der Klinik gearbeitet hat, wo er laut Krankenschwester Rita Stein dem „Flittchen“Klara Bellmann nachstellte. Klepp erklärt ihn zum Täter, doch ist er wirklich der Angstmann? Eines Nachts verfolgt Heller einen Verdächtigen, doch entkommt er. Das Grauen des
13. Februars beginnt. Heller irrt durch den Feuersturm. Er ist in Sorge um Karin. Er findet sie. Sie ist am Leben. Dann ist der Krieg vorbei. Klepp und Strampe sind tot. Die Russen sind da.
„Unsere Kegelbahn ist hin. Wir kegeln jetzt in Radebeul, Seestraße, Sonnabendmittag immer, komm vorbei, aber pst! Und lass dich nicht von den Russen einsacken.“Fritz zwinkerte, haute ihm derb auf die Schulter und ging weg, ohne auch nur eine Erwiderung abzuwarten.
Kegeln, dachte Heller, rieb sich geistesabwesend die Schulter und schüttelte den Kopf. Was für ein absurder Gedanke.
Er hatte heute etwas ganz anderes vor. Etwas, das ihn nicht schlafen ließ, seit er das erste Mal daran gedacht hatte. Er wollte zu seinem früheren Wohnhaus zurückkehren. Er wollte den Weg nachgehen, den er in jener Nacht gegangen war. Und er wollte die Häuserzeile finden, deren Bewohner ihm das Leben gerettet hatten, weil sie die Mauerdurchbrüche geschaffen hatten. Er musste das tun. Vielleicht half ihm das, seine Albträume loszuwerden.
Der Anblick der Ruinen hatte inzwischen seinen Schrecken verloren. Eine sah aus wie die andere. Alle waren rot und grau. Erstaunlich, wie wenig von einem Gebäude übrig blieb. Einst ein Haus mit sechs Stockwerken, Heim für zwölf Familien oder mehr, war nun ein Schuttberg, nicht viel höher als vier, fünf Meter. In jener Nacht waren sie ihm wie Gebirge vorgekommen. Die großen Straßen waren wieder passierbar. Einige Stromleitungen waren notdürftig repariert. Was geborgen werden konnte, war geborgen. Alles andere musste warten, bis die Zeit dafür gekommen war. Kreuze markierten Keller, in denen noch Verschüttete lagen. Irgendwo hinter einem der wenigen noch bewohnbaren Häuser klopfte jemand einen Teppich.
Mit Kreide hatten Überlebende und Suchende die Mauern der Gebäude beschrieben. Angeleimte Zettel lösten sich nach Wochen durch Wind und Regen. Hunderte verzweifelte Botschaften, denen man nicht ansah, ob sie ihren Adressaten
gefunden hatten oder längst der Hoffnungslosigkeit anheimgefallen waren:
„Fam. Lehmann wohnt jetzt bei Schulte, Laubeg. Ufer, Stephan Müller lebt, Dornblüth. str. 12, Hildegard Summschuh wo bist du? T., Erna mit Kindern nach Dipps. Inge, lebst du? M.“
Heller ließ sich Zeit, wollte sich vorbereiten auf das, was er zu sehen bekommen würde. Sein Heimatviertel Gruna und auch Johannstadt hatte er gemieden in all der Zeit. Er war am Stadtrand damit beschäftigt gewesen, Blindgänger zu markieren, Lebensmittel zu verteilen, Vermisstenmeldungen aufzunehmen, Arbeitstruppen einzuteilen, Flüchtlinge umzuleiten. Die meisten waren aus Schlesien gekommen. Sie wussten nur Schlechtes über die Russen zu erzählen. Manche sollten zurückgeschickt werden. Tausende Schicksale, Geschichten von Frost, Angst und Hunger. Elend. Manchmal wollte man am liebsten die Augen und die Ohren schließen und nie wieder öffnen.
Und dann stand er da, wo Karin und er sich gefunden hatten. Wäre sie einen anderen Weg gegangen oder er, oder hätten sie sich nur um eine Minute verpasst, womöglich hätten sie sich nie wiedergesehen. Er erkannte den Bordstein, auf welchem er gesessen hatte und der in Wirklichkeit ein Stück Hauswand war. Die Mauer dahinter schien jeden Moment umkippen zu wollen. Fast wöchentlich brach bei Sturm oder Regen noch ein Gebäude zusammen. Die Laterne daneben hatte er in dieser Nacht gar nicht wahrgenommen. Sie war verbogen, neigte sich tief zur Straße, als verbeuge sie sich. Die Straßenbahn war entfernt worden. Kaum vorstellbar, wie sie das geschafft hatten. Heller lief weiter und auf einmal wurde ihm bewusst, dass er noch immer dieselben angesengten Schuhe trug, noch denselben Mantel, verschmort, voller Brandlöcher. Ein abgerissener alter Mann grau
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Woh an w gestanden hatte. Der Keller war durch einen Bombentreffer auf der Straße seitlich aufgerissen. Heller ging in die Knie und warf einen Blick in das finstere Loch. Kaum zu glauben, dass Karin es geschafft hatte, hier herauszuklettern. Alle anderen hatten die Explosion nicht überlebt, kein Einziger von ihnen. Was wohl mit ihm geschehen wäre, hätte er in jener Nacht auch in dem Keller Schutz gesucht?
Heller zwang sich, das nicht als Schicksal zu betrachten. Sie hatten Glück gehabt. Mehr nicht. Er entdeckte etwas auf dem Boden vor sich und bückte sich danach. Geschmolzenes Glas. Sein Mantel war voll davon gewesen. Seine Hosen hatten in Fetzen gehangen. Das Metall seines Gürtelverschlusses und die Klammern seiner Sockenhalter hatten sich ihm ins Fleisch geschmort. Die Uhr mit geschmolzenem Uhrwerk und gesprungenem Glas hatte er wegwerfen müssen.
Unentschlossen blieb er stehen und betrachtete den Trümmerberg. Ob er es wagen konnte, darin herumzuklettern? Karin wusste nicht, dass er hier war, er hatte es absichtlich verschwiegen. Was er sich hier erhoffte, wusste er nicht. Vielleicht würde er jemand Bekannten wiedersehen, vielleicht würde er auch etwas finden, ein Andenken, Bilder Geschirr ein Stück aus dem