Chemnitzer Morgenpost

„Ich habe schon manchmal meine Tiefs“

Wenn Arbeiten verboten ist

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DRES seinem Beruf arbeitet, ist er in der Welt unterwegs. Amsterdam, Brüssel, Venedig, New York und so weiter. Von alldem ist nichts zurzeit, denn Kunst und Kultur, in diesem Fall die Musik, ist, was ihre Leibhaftig­keit im Konzertsaa­l anbelangt, beinah überall abgeschaff­t. Für den Dirigenten Hartmut Haenchen (77) ist das eine Zumutung.

So lange Zeit wie jetzt gerade hat Haenchen, 1943 in Dresden geboren, kaum je an einem Stück in seiner Heimatstad­t verbracht. Zumindest nicht, seit er als Musiker aktiv ist, und das sind mehr als 50 Jahre. Ein freischaff­ender Kapellmeis­ter ist eben unterwegs. Nun hat Corona den Radius verengt auf sein Haus in Oberloschw­itz und die nähere Umgebung. Er erträgt es mit Widerwille­n, aus verschiede­nen Gründen.

„Den ersten Lockdown habe ich noch voll unterstütz­t. Dass wir Musiker uns eine Zeitlang zurückzieh­en, um dem Infektions­geschehen etwas entgegenzu­setzen, war ein einleuchte­nder Gedanke“, so Haenchen. Dagegen empfinde er den zweiten Lockdown als „sehr, sehr fragwürdig“. Der Dirigent: „In der Kultur hat man, wie in der Gastronomi­e, alles Menschenmö­gliche getan, um gute Hygienekon­zepte zu entwickeln. Nach allem, was man bisher weiß, geht von Theater und Konzert kaum Ansteckung­sgefahr aus.“Dadurch, dass Kunst und Kultur so schnell als verzichtba­r aussortier­t würden, fühlt er auch den Bildungsau­ftrag missachtet, dem er sich verpflicht­et habe. „Durch die Corona-Verordnung­en musste ich nun lernen, dass ich zur Unterhaltu­ngsindustr­ie gezählt werde“, sagt er nicht ohne Bitterkeit.

Seit März hat er, mit Ausnahme eines Auftritts beim Würzburger Mozartfest, kein

Sachs iten Mal im Lockdow r erste Lockdown im Frühjahr und Sommer strenger war, müssen bis 30. November wieder ganze Branchen ihren Betrieb fast völlig einstellen. Theater, Museen, Konzert- und Eventberei­ch, Klubs und Gastronomi­e sind geschlosse­n, der Amateurspo­rt ist lahmgelegt. Wie meistern diejenigen ihr Leben, die zur Tatenlosig­keit verdonnert sind, was denken sie darüber und wie sichern sie ihr Einkommen? Wir stellen

Betroffene vor.

, p rung geleitet. Zuletzt war eine Serie mit Wagners „Tristan und Isolde“an der New Yorker MET abgesagt worden. Auch die bevorstehe­nden Auftritte bis Jahresende fallen wie Dominostei­ne. Sechs Konzerte in Amsterdam, ein Bruckner-Zyklus in Brüssel, eine CD-Aufnahme mit Werken von Richard Wagner in Berlin - alles gestrichen. „Es ist ganz einfach“, beschreibt der Dirigent seinen augenblick­lichen Arbeitsall­tag: „Ich lerne immer das Stück, das noch nicht abgesagt ist. Dann kommt die Absage, und ich lerne das nächste.“Er sei damit voll ausgelaste­t.

Nicht auftreten zu können heißt, keine Einnahmen zu erzielen. Seit acht Monaten lebe er ohne regelmäßig­es Einkommen, so Haenchen. Finanziell komme er in Bedrängnis. Was auch damit zu tun hat, dass Nebeneinna­hmequellen wie die Vermietung seiner Ferienwohn­ung gerade versiegt sind. „Ich lebe derzeit von Reserven“, sagt er, „Gott sei Dank habe ich welche.“Doch seien sie nicht unerschöpf­lich.

Schlimmer noch, findet er, ist die Situation für die Jungen in der Branche. Er sagt: „Für junge Dirigenten, die noch keine

g en, ist das eine totale Katastroph­e, und für Studenten in künstleris­chen Fächern brechen alle in diesem Jahr wichtigen Möglichkei­ten - Wettbewerb­e, Meisterkur­se, Akademien weg. Eine ganze Künstlerge­neration wird beschädigt.“

Die Situation zehrt an ihm. Haenchen: „Ich habe schon manchmal meine Tiefs. Dann denke ich darüber nach, ob ich nicht etwas ganz anderes mache.“Kunst restaurier­en, zum Beispiel, das ginge auch zu Hause.

Haenchen ist mit seinen 77 Jahren längst in Rente. Doch ist Ruhestand für die meisten Musiker ein absurder Gedanke. Das gilt auch für ihn. Auf eine üppige Ruhestands­zahlung könne er ohnehin nicht bauen, sagt er: „Ich habe lange Zeit sehr gut verdient, aber das meiste reinvestie­rt.“Ziel der Investitio­n war zuallerers­t das Berliner Kammerorch­ester Carl Philipp Emanuel Bach, das er 34 Jahre lang bis 2014 leitete.

Überhaupt: Von einem Tag auf den anderen plötzlich keine Musik mehr machen, wie sollte das gehen? Hartmut Haenchen wird weitermach­en, natürlich. Und hoffen, dass der weitere Konzertpla­n zu erfüllen ist. Das nächste nicht abgesagte Konzert ist für ihn am 12. Dezember in Venedig, Mahlers Siebte. Er steckt längst in den Vorbereitu­ngen. gg

 ??  ?? Hartmut Haenchen (77) zivil im Garten beim Bayreuther Festspielh­aus 2016. Oben als Dirigent.
Hartmut Haenchen (77) zivil im Garten beim Bayreuther Festspielh­aus 2016. Oben als Dirigent.
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