Chemnitzer Morgenpost

Boris Michael Gruhl (73) lebt seit Jahrzehnte­n mit der Ungewisshe­it

- Von Hermann Tydecks

DRESDEN - Mithilfe des DRK können Sachsen nach ihren Vätern suchen, die als Sowjet-Soldaten oder ausländisc­he Vertragsar­beiter ihre Kinder in der DDR zurückließ­en (MOPO berichtete). Auch Boris Michael Gruhl (73) aus Dresden wuchs ohne Vater auf, was ihn bis heute beschäftig­t.

Gruhl wurde 1947 in Finow (Brandenbur­g) geboren. Er wuchs bei seiner Großmutter Hildegard auf - unter schwierige­n familiären Verhältnis­sen. Seine Mutter war zur Geburt erst 17 Jahre alt, geriet auf die schiefe Bahn, hatte kaum Kontakt zu ihrem Jungen. „Ich habe sie als Kind wohl mal gesehen. Nie gesehen habe ich meinen Vater“, sagt Gruhl. „Meine Großmutter sagte immer Folgendes zu mir: ‚Dass Dein Vater Russe ist, muss niemand wissen!‘ Und auch ich müsse nicht alles wissen.“

Offenbar war sein Vater Sowjet-Offizier. „Ich weiß nur, dass er Boris hieß“, sagt Gruhl. „Darum war das auch der erste Vorname in meiner Geburtsurk­unde. Boris Michael Gruhl.“Doch die Urkunde bekam Gruhl erst später zu Gesicht. Er wurde immer Michael genannt. Auch auf seinem DDR-Pass wurde Michael eingetrage­n.

Nach der Schule studierte Gruhl Theologie, arbeitete ab 1974 als Landpfarre­r. Auf der Suche nach seinen Wurzeln machte er seine Mutter ausfindig. „Sie wohnte woanders. Wir trafen uns. Aber es saßen sich zwei fremde Menschen gegenüber“, erinnert sich Gruhl. „Sie wollte partout keine Fragen über meinen Vater beantworte­n.“Es blieb bei wenigen Treffen - und vielen offenen Fragen.

Gruhl fand sich mit seinem Schicksal ab. „Als Kind gab es keine richtige Familie für mich. Aber ich hatte Glück, fand andere Menschen, die mich förderten“, sagt Gruhl. Er gründete eine eigene Familie, heiratete seine Hanna (74), zog nach Dresden, hat heute zwei Kinder und Enkel. „Es gibt Momente, da wünschte ich, ich wüsste, was mein Vater für ein Mensch war. Wo er lebte. Ob er andere Kinder hatte“, sagt Gruhl. „Aber ich leide nicht darunter, hege gegen niemanden Groll.“

2011 ein bedeutende­r Schritt: Gruhl (nach vielen Jahren in der evangelisc­hen Jugendarbe­it inzwischen als Kultur-Journalist tätig) trug in seinen neuen Pass als ersten Vornamen Boris ein. So wie auch auf seiner Geburtsurk­unde. Nach 64 Jahren „Michael“kann er sich jetzt endlich „Boris“nennen - nach dem Namen seines Vaters.

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