Wir müssen das Tournee-Geschäft revolutionieren“
Kultur in der Krise: Interview mit Jan Vogler über den Corona-Lockdown
MOPO: Der zweite Lockdown hat Deutschland im Griff. Wie ist die Situation in New York?
Jan Vogler:
Praktisch identisch. Carnegie Hall, Lincoln Center, Broadway - alles geschlossen. Außer Streaming und Aufnahmen findet nichts statt. Da bewegt sich allerdings viel, ich kenne fast keinen Künstler, der in diesem Jahr keine neue CD eingespielt hat und kein Konzert gestreamt hat!
Wann haben Sie Ihr bislang letztes Konzert gespielt?
Ende Oktober in der wunderschönen Schinkelkirche von Schloss Neuhardenberg. Wir hatten eine Woche intensiver Arbeit mit jungen Musikern, ich bin sehr dankbar, dass das noch stattfinden konnte. Da waren die Corona-Zahlen in Deutschland allerdings auch noch nicht einmal halb so hoch wie jetzt. Wir hatten Glück, es war eine kleine Insel in dem Ozean der Absagen.
Wie viele Ihrer Auftritte mussten abgesagt werden?
Geschätzt sind es 95 Prozent aller Konzerte im Jahr 2020, aber im Frühjahr ’21 stehen noch Konzerte in Israel und Asien im Kalender. Ich habe keine Ahnung, ob die stattfinden können.
Es gibt in Deutschland laute Kritik am Lockdown. Theater wie Konzertveranstalter hätten tragfähige Schutzkonzepte erarbeitet, die Ansteckungsgefahr für Publikum und Künstler auf ein Minimum reduziert, die Komplettschließung aller Einrichtungen sei daher unverhältnismäßig, heißt es. Wie sehen Sie das?
Ich habe mich klar entschieden, mich intensiv auf die Zukunft zu konzentrieren, auf die Zeit, wenn ein Impfstoff die Situation langsam entspannt. Selbst wenn wir spielen dürften, würden die Menschen ins Konzert kommen? Es ist schmerzlich,
DRESDEN/NEW
YORK - Das Coronavirus hat kein Land so stark getroffen wie die USA. Mehr noch als in Deutschland liegt dort das Kulturleben darnieder. Jan Vogler (56), der in Berlin geborene Cellist, Intendant der Dresdner Musikfestspiele und künstlerischer Leiter des Moritzburg Festivals, lebt in New York und ist ein intimer Kenner beider Welten. Wir sprachen mit ihm über die Zumutungen des Lockdowns, und was Kunst und Künstlern zu tun bleibt. Vogler appelliert an Dynamik und Energie seiner Zunft. das zuzugeben, aber momentan sind die Vorzeichen für ein gesellschaftliches Leben negativ. Aber das kann sich relativ schnell ändern, dann müssen wir bereit sein. Wir müssen praktisch ständig planen und wieder umplanen, das ist vielleicht aufwendig, aber sehr notwendig. Die Menschen brauchen uns, die Frage nach dem Stellenwert von Musik und Kultur allgemein hat sich selbst beantwortet, niemand ist glücklich ohne gemeinsame Erlebnisse und Inspiration!
Wie groß ist der Schaden, der durch die Eliminierung des Konzertbetriebs entstanden ist?
Es sind viele Zahlen im Umlauf, aber allein die Live-Konzert-Branche ist international eine Milliarden-Industrie. Dort werden allein mit Konzertkarten 35 Milliarden Euro weltweit umgesetzt. Dazu kommen der Kulturtourismus mit Gastgewerbe und Reisemarkt. Trotzdem wiegt meines Erachtens der emotionale Schaden noch schwerer, die Menschen sind einsam und isoliert. Ich habe seit März viel mit Streaming experimentiert, Ende Mai dann die Streaming-Plattform Dreamstage.live mit gegründet. Wir erreichen die Menschen zu Hause, ich denke das ist sehr wichtig und hilft, ein Gefühl des Zusammenhalts zwischen Künstler und Publikum zu erhalten.
Befürchten Sie eine Pleitewelle bei Veranstaltern und Konzerthäusern?
Schwer zu sagen. Es hängt davon ab, wie schnell Impfungen die Lage entspannen können. Ich bin Optimist und rechne bereits im späten Frühjahr mit einer deutlichen Besserung. Das wäre dann etwas mehr als ein Jahr extreme Durststrecke für das Gastgewerbe und die Kultur. Aber das ist noch das positive Szenario.
In Deutschland werden viele Kultureinrichtungen öffentlich gefördert, in den USA nicht. Ist die Situation dennoch vergleichbar?
In den USA ist die Situation noch zugespitzter. Covid hat sich viel schneller und unkontrollierter ausgebreitet, die Menschen sind jetzt noch wesentlich vorsichtiger, was Kulturveranstaltungen betrifft. Völlig undenkbar, dass in New York im Moment jemand in ein Konzert oder Musical gehen würde. Das wird meiner Meinung nach auch noch länger anhalten als in Europa. Man darf nicht vergessen, dass es in den USA im 20. Jahrhundert praktisch keine Kriegshandlungen auf eigenem Territorium gab - das ist die größte Krise für das gesellschaftliche Leben, die die USA jemals erlebt haben, die Leute sind traumatisiert und verängstigt. Anders in Europa, Krieg und Zerstörung haben das Kulturleben in Europa gerade im 20. Jahrhundert oft jahrelang unterbrochen oder erschwert. Die Musik war dann immer sehr schnell wieder da, es gibt eine Tradition im Überwinden von monumentalen Krisen.
Was müsste geschehen, um den Schaden für die Kultur zu minimieren?
Wir müssen Visionen kreieren, an der Zukunft arbeiten. Es hat keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken oder mit dem Kopf durch die Wand jetzt unbedingt Konzerte spielen zu wollen. Wir müssen extrem flexibel bleiben und verstehen, dass Corona simultan mit der Umweltkrise und der technischen Revolution stattfindet. Wir müssen neue Möglichkeiten der Verbreitung von Live-Musik finden, das Tournee-Geschäft revolutionieren und - vermutlich mit Hilfe des Impfstoffes - den Konzertbesuchern ein Gefühl der Sicherheit geben. Natürlich sind auch staatliche Hilfen sehr wichtig, aber die Dynamik und Energie werden wir selbst erzeugen müssen. Ich wiederhole sehr optimistisch: alles mit Blick auf das nächste Frühjahr. Das heißt, wir haben alle Hände voll zu tun! gg