Die Frau mit dem Rucksack
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 2. Teil
Dresden im Februar 1947. Im zweiten Jahr nach Kriegsende gehört die Stadt zur sowjetischen Besatzungszone und ist nach wie vor eine Trümmerwüste. Das Leben von Oberkommissar Max Heller und seiner Frau Karin ist im Hungerwinter geprägt von Krankheit und Not. An einem klirrend kalten Morgen werden Heller und sein Kollege Oldenbusch von der neu gegründeten Volkspolizei an einen Tatort in der Neustadt gerufen.
„Kommissar Oldenbusch, hierher, bitte!“Heller schlug den offiziellen Ton an und zeigte auf einige Blutstropfen im Schnee. „Können Sie bei der Kälte ein Lichtbild machen?“
Oldenbusch nickte. „Ich denke schon.“
Heller sah sich um und betrachtete missbilligend die Menschenmenge, die sich nicht auflösen wollte. Der Laster stand noch immer da, sein Motor sprang offenbar nicht an. Verhaltene Belustigung machte sich unter den Zuschauern breit. Heller konzentrierte sich wieder auf den Fundort der Leiche und betrachtete skeptisch das steile Gefälle und die Fußspuren der Sowjetsoldaten. Sie waren rücksichtslos durch den blutgetränkten Schnee gestiefelt.
„Extrem starker Blutverlust“, stellte Heller fest. Die dunkle Spur führte bis zu dem Gebüsch hinab. Heller trat ein paar Schritte von der Hangkante zurück, um festzustellen, dass man das Gebüsch von der Straße aus tatsächlich nur sehen konnte, wenn man unmittelbar vorn an der Kante stand.
„Der Mann, der den Toten fand? Wo ist der?“, fragte Heller.
„Er ist weg. Wir haben seine Personalien aufgenommen, damit er zur Arbeit gehen konnte.“
Heller betrachtete den dunklen Fleck im Schnee. „Sie haben den Toten noch gesehen? War die Todesursache erkennbar?“
Noch immer war der Motor des Lasters nicht angesprungen. Ganz kurz überlegte Heller, ob er die Gelegenheit nutzen und sich die Leiche doch noch ansehen sollte. Doch der junge Sowjetoffizier hatte sich sehr deutlich ausgedrückt.
Der Volkspolizist nickte. „Ein Stich direkt in die Halsschlagader, es hätte gar keine Rettung für ihn gegeben. So etwas habe ich früher häufig gesehen.“
Heller wusste, was er damit meinte. Im Krieg.
„Ein Streit unter Russen, nehme ich an. Das erleben wir alle Tage. Betrinken sich und schlagen sich dann. Und manchmal bleibt es nicht dabei.“
Heller nickte ungehalten, er hatte den Mann nicht nach seiner Meinung gefragt. Der Motor des Lasters sprang an, erstarb aber gleich wieder. Die Soldaten stritten, während der Offizier
neben dem Fahrzeug stand und rauchte.
„Auch Offiziere? Der Tote war doch ein Offizier“, warf Oldenbusch ein.
„Warum nicht?“, der Vopo hob wieder die Schultern. „He, weg da!“, rief er dann ein paar Jungen zu, die versuchten den Hang hinunterzuklettern, um einen Blick auf die riesige Blutlache zu erhaschen, die im Schnee versickert und dort gefroren war.
Heller holte seinen Notizblock und Bleistift hervor und machte sich vorsichtshalber eine knappe Skizze. Es war so kalt, und er traute Oldenbuschs alter Kamera nicht zu, dass sie bei diesen Temperaturen funktionierte.
„Ich nehme an, er wurde hier überfallen, auf der Straße, geriet ins Taumeln, stürzte hinunter und verblutete im Gebüsch. Werner, Sie müssen trotzdem versuchen, Spuren aufzunehmen.“
Oldenbusch schniefte, hangelte sich ein paar Meter den Hang hinunter und schoss noch zwei Fotos. Dann kletterte er den Hang mit einiger Mühe wieder hinauf. „Wenn wir wenigstens einen Abdruck von den Schuhen des Toten hätten, dann könnte ich versuchen herauszufinden, aus welcher Richtung das Opfer kam.“
Heller sah sich ein weiteres Mal nach dem Armeelaster um. „Können Sie kein Foto von den Profilen der Stiefelsohlen machen? Noch stehen sie da.“
„Ich geh die Genossen mal fragen“, murmelte Oldenbusch und marschierte los. Heller schob seine Hände wieder in die Manteltaschen und ließ seinen Blick über das Elbtal schweifen. Die frühmorgendliche Sonne schien über das Ruinenfeld auf der anderen Elbseite. Das Licht ließ die vom Schnee bepuderten Mauerreste und Ziegelberge rosa leuchten.
„Beinahe hübsch“, bemerkte der Uniformierte.
Heller sah ihn an und hob die Augenbrauen. Der Vopo hob die Hand und deutete erklärend auf die Ruinen. Heller wusste nicht, ob er verärgert oder belustigt reagieren sollte. Er schüttelte den Kopf. Seltsam, was die Menschen so dachten.
„Das hat keinen Zweck“, kommentierte Oldenbusch, als der schon wieder zurückgekehrt war. In dem Moment sprang hinter ihnen der Motor des Lastwagens an und brüllte mehrmals laut auf, eine schwarze Abgaswolke schoss aus dem Auspuff. Einige Zuschauer klatschten beinahe höhnisch Beifall. Die Sowjets waren nicht beliebt und sie taten auch nichts dafür, sich beliebt zu machen. Heller wusste, es war ihr gutes Recht, doch richtig war es nicht. „Bei Adolf hatten wir immer Butter“, hatte ihm neulich eine Frau in der Schlange vor der Tauschzentrale zugeraunt. Er hatte nichts darauf erwidert. So viel gäbe es zu sagen, womit hätte er anfangen sollen?
Jetzt fuhr der LKW davon, und der Straßenbahnfahrer läutete die Glocke, um die Fahrgäste zum Einsteigen zu ermahnen.
„Der Russe hat das gar nicht einsehen wollen.“Oldenbusch klang resigniert. „Zwecklos, hier auch nur noch eine Sekunde zu verschwenden. Wollen wir uns nicht lieber dem Überfall auf den Kohlehändler widmen?“
„Wahrscheinlich haben Sie recht, Werner.“
„Weg da, hab ich gesagt!“, rief der Vopo plötzlich wieder. „Diese Rotzbengel!“Heller sah den Hang hinunter. Weiter unten, wo das Gebüsch dichter wurde, hatten sich anscheinend ein paar neugierige Jungen versteckt. Zwischen den Sträuchern sah man ein paar Leute Reisig sammeln. Jeder Zweig, jedes Holzstück wurde zum Feuern benötigt. Sogar Geländer und Schaukästen wurden gestohlen, Gartenstühle und Zäune. Heller hatte außerdem gesehen, dass man im Großen Garten bereits begonnen hatte, Bäume zu fällen. Und der Winter war noch lange nicht zu Ende. Auch weiter unten am Körnerweg und auf der breiten Elbwiese herrschte Betrieb. Manche Leute scharrten im Schnee in der Hoffnung, Klee oder Löwenzahn zu finden. Heller deprimierte dieser Anblick.
„Kommen Sie, Werner, lassen Sie uns verschwinden, sobald die Bahn weg ist.“
„Soll ich den Fundort weiter sichern?“, fragte der Uniformierte.
Heller dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. Die Sowjets ließen sich sowieso nicht in die Karten blicken, wenn sie nicht einmal zuließen, dass man die Stiefelsohle des Toten fotografierte.
„Melden Sie sich in Ihrem Revier oder setzen Sie Ihren Streifenweg fort. Guten Tag. Abtreten!“, befahl Heller dem Vopo.
Dieser grüßte und zog ab. Heller ging zum Auto und stieg ein. Oldenbusch warf sich mit seinem ganzen Gewicht neben ihn auf den Fahrersitz und ließ den Motor an.
Missmutig beobachtete Heller einige Leute, die, kaum dass der Polizist weggegangen war, neugierig zum Leichenfundort drängten.
„Als ob sie nicht genug Elend gesehen hätten“, murmelte er, obwohl er sich vorgenommen hatte, solche Kommentare zu unterlassen.
„Na, wenigstens scheint die Sonne“, versuchte Oldenbusch die Stimmung seines Vorgesetzten aufzuheitern und wollte schon den Gang einlegen.
Da berührte Heller ihn am Arm. „Wir bleiben noch, bis die Straßenbahn abgefahren ist.“
Oldenbusch lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Männer warteten. Die Bahn hatte sich wieder gefüllt. Inzwischen war schon die nächste gekommen, und auch aus der Gegenrichtung hielt eine fahrplangerecht an der vorgeschriebenen Haltestelle. Viele Leute waren ausgestiegen, und manche blieben stehen und blickten neugierig zu der Menschenansammlung am Hang.
Plötzlich fiel Heller eine Person auf, die sich scheinbar zufällig, doch bei genauerem Betrachten zielstrebig zwischen den Leuten durchschlängelte und auf den Hang zusteuerte. Ganz offensichtlich interessiert sie sich nicht für das Geschehen um sie herum. Sie trug einen Mantel, der einmal ein Wehrmachtsmantel g sein mochte, und beweg trotz ihrer scheinbaren L fülle erstaunlich leichtfüß sah aus, als wäre der M nur ausgestopft. Heller t Oldenbusch an und deute die Gestalt.
Aus der Nähe entpupp die Person als junge Frau noch ein Mädchen. Sie li dicht an dem Polizeiauto vorbei, und Heller musste sich nun umdrehen, um sie weiter beobachten zu können. Jetzt blieb sie stehen und blickte den Hang hinun ter. Plötzlich machte si eine rasche Bewegung nach vorn und lief mit kleinen Schritten den Hang hinunter. Um besser sehen zu können, was sie tat, öffnete Heller die Autotür und stieg aus. Die junge Frau war bereits knapp zehn Meter hinuntergeklettert vorbei an dem Gebüsch, in dem der Tote gelegen hatte, und stand in der Nähe einer Hecke. Sie bückte sich und versuchte, etwas hervorzuzerren. Es war ein Rucksack. Einer der Tragegurte hatte sich im Dornengestrüpp verhakt.
„Halt!“, rief Heller. Die Frau sah erschrocken zu ihm hoch. „Liegenlassen!“, befahl Heller. Auch Oldenbusch war neben ihn getreten. „Glauben Sie, der gehörte dem Russen?“
„Kann sein“, erwiderte Heller knapp und beeilte sich, ebenfalls den Hang hinunterzuklettern.
„Polizei! Lassen Sie das liegen.“Heller hatte bereits den Rucksack geschnappt, doch die Frau wollte ihren Fund nicht hergeben. Sie zog und zerrte wild, bekam den Rucksack schließlich frei, weil Hellers klamme Finger den Halt verloren hatten. Hastig wollte sie den Hang weiter hinunterrennen, doch sie rutschte aus und fiel hin. Oldenbusch hatte inzwischen Heller überholt, schlitterte mit einem Fuß voran über den verharschten Untergrund, während er mit dem anderen versuchte, die Balance zu halten. Die Frau hatte sich aufgerafft, doch Oldenbusch war schon da und hielt den Rucksack an einem Riemen fest.
Mit einem wütenden Knurren, fast wie ein Tier, ließ die Frau los und stolperte, halb rutschend, halb rennend, das steile Gelände hinunter. Als sie unten angekommen war, blickte sie sich hektisch noch einmal um und rannte dann den Körnerweg entlang, in Richtung Stadtmitte. Oldenbusch verfolgte sie noch gut hundert Meter, wobei der Rucksack in seiner Hand wild hin und her geschleudert wurde, doch es war abzusehen, dass er sie nicht mehr einholen würde.
Lesen Sie weiter am Sonnabend!